Demokratie braucht Kompromissfähigkeit

Thomas Sternberg,  Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)  und Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de, nahm in der ZdK-Vollversammlung am 24./25. November 2017 in Bonn Stellung zur aktuellen politischen Lage.

Den vollständigen „Bericht zur Lage“ des Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) Prof. Dr. Thomas Sternberg bei der ZdK-Vollversammlung am 24./25. November 2017 in Bonn können Sie hier ausdrucken.

Der Bericht befasst sich sich mit den Themen

  • Bilanz zur Bundestagswahl
  • Klimaschutz
  • Familiennachzug
  • Sozialpolitische Herausforderungen
  • Islam
  • Ethische Konfliktfragen
  • Ökumene im Reformationsjahr
  • Richtungsentscheidungen in der Kirche

Im folgenden werden die Auszüge zur politischen Lage dokumentiert:

Prof. Dr. Thomas Sternberg
Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

Bericht zur Lage bei der ZdK-Vollversammlung am 24./25. November 2017 in Bonn

Auszüge:

Bilanz zur Bundestagwahl

Vor genau zwei Monaten haben wir einen neuen Deutschen Bundestag gewählt. Was ist da geschehen? Ich beginne anders als viele andere Beobachter mit der Feststellung:  87 Prozent haben nicht die AfD gewählt.

Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte setzte im Arbeitskreis unseres Sachbereichs 2 noch einen weiteren Akzent: 73 Prozent haben Parteien der „aufgefächerten Mitte“ gewählt. Das ist weniger als früher, aber im Vergleich zu anderen Ländern immer noch eine sehr stabile Mitte. Es ist nur schwer begreiflich, dass innerhalb dieses 73-Prozent-Spektrums keine Regierungsmehrheit zu finden ist, unter Parteien, die gerade angesichts des Drucks von links und rechts schon aus staatspolitischer Verantwortung prinzipiell koalitionsfähig sein sollten.

Nun haben wir in diesem Spektrum zwei Parteien, die dazu dezidiert nicht bereit sind. Eine hat das fast unmittelbar nach Schließung der Wahllokale verkündet, eine zweite hat sich dazu knapp zwei Monate Zeit gelassen. Zwei weitere Parteien konnten sich lange nicht von ihren Maximalpositionen trennen.

Mit den Jamaika-Sondierungen waren viele Hoffnungen auf einen politischen Aufbruch verbunden. Denn die große Koalition ist zwar nicht rechnerisch abgewählt worden, aber die politische Botschaft schien nach den deutlichen Verlusten der Koalitionsparteien doch eindeutig.

Große Koalitionen können in schwierigen Zeiten sehr verdienstvoll sein – und wer wollte bestreiten, dass wir uns gerade in einer europa- und weltpolitisch schwierigen Zeit bewegen? Gleichwohl ist es für die Demokratie besser, wenn sie nicht zu Dauereinrichtungen werden und wenn es auch eine starke und handlungsfähige Opposition gibt. Große Koalitionen stärken die Ränder – aber zugleich zwingen starke Ränder auch zu großen Koalitionen.

Sorgen bereitet die mangelnde Fähigkeit, eine Regierung zu bilden. Dafür braucht es Mut, den Willen zu Stabilität und Verlässlichkeit sowie Vertrauen und Respekt unter den Parteien. Und als Christ darf man auch hinzufügen: Gottvertrauen ist mehr als eine Floskel – das verhilft auch im politischen Alltag zu einem anderen Blick auf die Dinge.

Mit unserer Initiative zum Wahljahr „Demokratie stimmt“ haben wir betont: Demokratie ist anstrengend und aufreibend, sie lebt von Vertrauen, Überzeugungen und Kompromissen, getragen von vertrauenswürdigen, überzeugenden und kompromissbereiten Menschen. Vertrauen übrigens zwischen Wählern und Gewählten, aber auch Vertrauen zwischen handelnden Akteuren in Koalitionen!

Niemand wird in einer Koalition alle seine Wünsche umsetzen können – das geht, wie man an den so unterschiedlichen Regierungen in Frankreich und Polen beobachten kann, übrigens auch nicht mit einer absoluten Mehrheit im Rücken. Und manchmal muss man auch bereit sein, gegen einen Trend zu regieren.

Die Regierungsbildungen nach den letzten Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen waren allesamt so nicht zu erwarten. Hier haben die jeweiligen Koalitionspartner den Mut gehabt, sich aufeinander einzulassen und sich dafür im eigenen Lager auch Kritik zuzuziehen. Dafür hat es im Bund offenbar nicht – oder noch nicht – gereicht. Warum sollte das eigentlich durch Neuwahlen anders werden?
Demokratie bewährt sich in der Kompromissfähigkeit!

Klimaschutz

Exemplarisch hätte sich in der besonders strittigen Energie- und Klimapolitik zeigen lassen können, was Kompromissfähigkeit konkret bedeutet und dass sie nicht mit Richtungslosigkeit zu verwechseln ist. Wenn es den Parteien gelungen wäre und hoffentlich in Zukunft gelingen wird, einen Fahrplan für den Kohleausstieg zu vereinbaren, dann kommt es auf eben diese Richtung an und erst in zweiter Linie auf das konkrete Ausstiegsdatum.

In den letzten Wochen stand die Weltklimapolitik im Fokus der Öffentlichkeit. Zur Weltklimakonferenz hier in Bonn kamen über 25.000 Teilnehmer aus aller Welt. Es wurde hart um die Regeln und die Finanzierungszusagen zur konkreten Umsetzung des Pariser Klimaabkommens gerungen. Unmittelbar vor der Bonner Konferenz haben wir gemeinsam mit dem BDKJ und MISEROR eine gut besuchte und erfolgreiche Tagung zu der Umsetzung des Pariser Abkommens und dem Beitrag der Kirche durchgeführt. Hier wurde über ähnliche Fragen wie bei den Jamaika-Sondierungen, insbesondere die Erreichung der deutschen Klimaschutzziele, kontrovers diskutiert. Wir werden uns weiterhin für die konsequente Umsetzung dieser Ziele auch und gerade hier bei uns einsetzen!

Familiennachzug

Ein anderes heftig umstrittenes Verhandlungsthema war der Familiennachzug. Im Parteienstreit geht es um den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte. Daneben gibt es das Recht auf Familiennachzug für Asylberechtigte und für Schutzberechtigte nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Dieses Recht darf nicht durch unzumutbare Hindernisse und Verzögerungen bei der Zusammenführung der Familien ausgehöhlt werden. Solche Missstände zu beheben, darin sollten sich alle einig sein.

Strittig bleibt der Familiennachzug für die Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten, zu denen seit 2016 auch viele syrische Bürgerkriegsflüchtlinge gehören. Das Recht auf Familiennachzug wurde für diese Gruppe bis März 2018 ausgesetzt. Wir haben wiederholt im Einklang mit den Bischöfen unsere Position vorgetragen, dass auch den subsidiär Schutzberechtigten mit befristeter Aufenthaltserlaubnis der Familiennachzug wieder ermöglicht werden sollte.

Der im Grundgesetz verankerte besondere Schutz der Familie gilt auch für nach Deutschland geflüchtete Menschen. Nicht zuletzt ist die Zusammenführung der Kernfamilie ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Integration. Die Trennung von Ehepaaren und Familien auf lange Dauer ist aus christlicher und menschenrechtlicher Perspektive nicht hinnehmbar!

Hier setzen aber auch die Kritiker der erneuten Ausweitung des Familiennachzugs an. Und diese Kritik dürfen wir, auch wenn wir in der Abwägung der Güter zu einem anderen Ergebnis kommen, nicht einfach als unchristlich abtun. Wenn kommunale Spitzenvertreter und Spitzenverbände vehement für die weitere Aussetzung des Familiennachzugs eintreten, ist der Grund ihre nachvollziehbare Sorge um die Grenzen der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit vor Ort. Integration ist für sie auch eine quantitative Herausforderung, was durch Wohnraummangel und prekäre Lebenslagen in der angestammten Bevölkerung noch verschärft wird. Darum warne ich davor, dass wir als Kirchen die Position, von der wir gleichwohl überzeugt sind, von einem zu hohen moralischen Ross herab verkünden.

Zugleich dürfen wir nicht nachlassen im beharrlichen Bemühen um Integration. Das ist nicht immer leicht und bedarf wirklich eines langen Atems. Viele wissen von Enttäuschungen in den Mühen der Ebene zu berichten. Umso erfreulicher, wenn es auch immer wieder Erfolgsgeschichten zu erzählen gibt. Exemplarisch für die vielen, die sich um die Integration geflüchteter Menschen kümmern, möchte ich hier das von der Bundesregierung geförderte Modellprojekt „Schwangerschaft und Flucht“ nennen, das der Bundesverband von donum vitae im vergangenen Jahr gestartet hat.

An 28 Standorten bundesweit gibt es nun aufsuchende Beraterinnen, die in die Flüchtlingsunterkünfte gehen, dort schwangere Frauen beraten und ihnen und ihren Familien Orientierung und Unterstützung vermitteln. Es war, wie man auch in unserer Zeitschrift Salzkörner lesen kann, ein großer Kraftakt, dieses Netzwerk aufzubauen – und der nächste Kraftakt deutet sich schon an, denn nach drei Jahren läuft das Modellprojekt aus. Der Beratungs- und Unterstützungsbedarf dieser besonders verletzlichen Zielgruppe, die anders kaum erreicht werden kann, wird aber sicherlich weiterhin bestehen.

Ein großer Dank an alle aus unseren Verbänden, Vereinen, Organisationen, Diözesen und Gemeinden, die hier großartige Arbeit leisten!

Sozialpolitische Herausforderungen

Wenn Städte und Gemeinden zur Frage des Familiennachzugs signalisieren „Wir haben schon genug Probleme“, wenn Menschen sich unter Druck gesetzt fühlen und zugewanderte Menschen als Konkurrenz und Bedrohung wahrnehmen, dürfen wir das nicht ausblenden, weil es unser Wunschbild von unserer Gesellschaft stört. Ängste vor dem Fremden und dem Ungewohnten, vor Ausländern, vor „dem Islam“, vor Verdrängung und Benachteiligung lassen sich nicht einfach als unberechtigt abtun. Sie müssen ernst genommen werden, aber in Besorgnisse umgewandelt werden. Mit Sorgen kann man umgehen, mit Ängsten kaum. „Entängstigt euch“, so hat das Paul Zulehner formuliert. Daran müssen wir mitwirken!

Mancher Missstand wird auf Flüchtlinge als vermeintliche Verursacher projiziert. Doch steigende Mieten, drohender Wohnungsverlust, fehlende Sozialwohnungen und Ablehnung bei Kita-Plätzen sind bei näherer Prüfung nur sehr selten vom Flüchtlingszuzug verursacht. Gleichwohl sind es ernsthafte Probleme. Es ist ein ernsthaftes Problem, wenn Niedriglohnbezieher von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt sind, wenn öffentliche Gebäude und Plätze verwahrlosen.

Manche erklären ein enttäuschendes Wahlergebnis damit, man sei nicht konservativ oder national genug gewesen und jetzt müsse die rechte Flanke geschlossen werden. Ich kann eine solche Auffassung vor dem Hintergrund meiner Beobachtungen weder politisch noch analytisch teilen.

Die Protestwahl hatte auch eine soziale Komponente. Ich frage Sie: Ist es nicht eher so, dass wir eine entschiedenere Sozialpolitik brauchen? Darüber haben wir in den Wochen der Sondierungen noch zu wenig gehört. Warum eigentlich?

Wir haben es ohne Zweifel auch mit sozialen Verwerfungen zu tun, die das gesellschaftliche Klima vergiften. Dagegen können wir etwas tun in Tarifverhandlungen, im Wohnungsbau, in der Familienförderung und mit Bildungsinvestitionen.

Ich stelle nur einmal die Frage nach der Spreizung zwischen hohen und niedrigen Löhnen in einer Branche durch den Verzicht auf Sockelbeträge in Lohnabschlüssen. Die Schere zwischen den einfachen Einkommen und den Spitzeneinkommen ist zu weit auseinander gegangen. Hier müssen Parteien und Tarifpartner tatkräftig und programmatisch ansetzen. Und wir als Katholiken sollten nicht zuletzt auf der Basis der katholischen Soziallehre Anwälte der sozial Schwachen sein!

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert