Der Angriffskrieg auf die Ukraine dauert schon fast zwei Jahre

Prof. Dr. Thomas Schwartz

Die Menschen in der Ukraine müssen augenblicklich den zweiten Kriegswinter überstehen. Die völkerrechtswidrige Invasion Russlands geht im Februar in ihr drittes Jahr und weiterhin ist kein Ende dieses durch nichts zu rechtfertigenden Aggressionskrieges mitten in unserem Kontinent in Sicht.

Dieser Unrechtskrieg der russischen Föderation gegen ein souveränes Nachbarland hat bislang bereits unzählige militärische und zivile Opfer gefordert. Er hat Millionen Menschen heimatlos gemacht und zur Flucht gezwungen, Hundertausende auf beiden Seiten sind bereits kriegsversehrt geworden und die Zahl der schwersttraumatisierten Menschen lässt sich noch gar nicht beziffern.

Dieser Krieg hat auch die Arbeit von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, an vielen Punkten stark verändert. Das gilt insbesondere für unsere Arbeit in der Ukraine.

Hatten wir in den 30 Jahren unseres Bestehens in der Ukraine bislang über 6000 Projekte mit einem Gesamtvolumen von weit über 120 Millionen € unterstützt und dabei in der Hauptsache Aufbauarbeit geleistet, so wurden im Verlauf des Krieges zum ersten Mal Gebäude, deren Bau wir gefördert hatten, zerstört. In den ersten Wochen und Monaten des Krieges konnte von Aufbauarbeit keine Rede mehr sein. Vielmehr standen Rettungsaktionen sowie Not- und Katastrophenhilfe auf unserer täglichen Agenda.

Wir mussten Notfallpläne zu verwirklichen helfen. Wir mussten daran mitarbeiten, tägliche erschütternde Notsituationen zu lindern. Keine Priesterseminare, Schulen, Bibliotheken oder Kindergärten waren zu finanzieren, sondern die Einrichtung von Luftschutzkellern, von mobilen Küchen, der Kauf von Notstromaggregaten und – horrible dictu – auch der Erwerb von Tausenden von Leichensäcken landeten zur Genehmigung auf meinem Schreibtisch. Matratzen kaufen, Mobile Toiletten, verschiedene andere Hilfsleistungen für Binnen-Flüchtlinge mussten angeschafft und finanziert werden. Es gab so unsäglich viele Aufgaben, die wir zusammen mit unseren Partnern vor Ort zu organisieren und zu finanzieren hatten, dass meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von morgens bis abends arbeiten mussten, um alle Notprojekte so unbürokratisch wie möglich und doch so korrekt wie nötig bearbeiten zu können.

Bei all diesen Herausforderungen kam uns das jahrzehntelang erarbeitete Vertrauen zur Hilfe, das uns unsere Partner in der Ukraine entgegenbringen. Das vereinfacht die Arbeit, denn das Vertrauen reduziert Komplexität und erleichtert die notwendigen kritischen Evaluationsprozesse.

Renovabis hat seit dem Beginn des Krieges bis zum heutigen Tag weit über 250 Projekte mit einer Gesamtsumme von annähernd 18 Millionen € finanzieren können.

Die Aufgabe, vor der wir jetzt stehen, ist wiederum anders als jene der vergangenen zwei Jahre: Sie bedeutet in der Zukunft nicht mehr in erster Linie Notprogramme auf den Weg zu bringen; vielmehr ist bald wieder Aufbauarbeit angesagt. Dazu gibt es bereits zahlreiche Überlegungen und auch etliche konkrete Planungen. Für uns als kirchliches Hilfswerk wird diese Aufbauarbeit aber wohl ganz anders aussehen, wie jene, wie wir sie aus den vergangenen dreißig Jahren gewohnt waren!

Wir werden nicht mehr in erster Linie in Steine investieren können, sondern in Köpfe, Herzen und Seelen! Auf viele Fragen wissen wir derzeit noch keine Antwort: Wie können wir den Menschen helfen, dass sie traumatische Erfahrungen aufarbeiten können? Wie steht man Menschen bei, die zu Opfern des Krieges geworden sind? Wie schafft man neue Heimat für die Vertriebenen?

Unsere Aufgabe als Hilfswerk wird sein, den Menschen Mut zu machen, das Land wieder selbst aufzubauen, in ihrer Heimat zu bleiben, die plurale Gesellschaft, deretwegen die Ukraine ja eigentlich von der Russischen Föderation und seinen Machthabern angegriffen wurde, zu verteidigen und weiterzuentwickeln.

Die Menschen in der Ukraine stehen vor der riesigen Herausforderung, Kraft aus der Freiheit des Wortes und Denkens zu schöpfen und an die Zukunft ihres Landes und ihres Volkes zu glauben. All das wird Renovabis mit seinen Partnern in ganz unterschiedlichen Projekten zu verwirklichen suchen.

Aber Renovabis ist nicht nur eine kirchliche Hilfsorganisation. Wir verstehen uns seit unserer Gründung immer auch als eine Plattform für den Dialog und den Frieden. Die Ermöglichung des Dialogs wird eine weitere Herausforderung sein, vor der wir mit unseren Partnern stehen. Wie kann es in Zukunft möglich sein, einen Korridor zwischen ukrainischen und russischen Menschen zu schaffen, der es möglich macht, miteinander zu sprechen, sich über Schuld und Leid auszutauschen, einander zuzuhören, einander womöglich zu vergeben und irgendwann, wenn die Menschen in der Ukraine dazu bereit sein werden, auch an einem Prozess der Versöhnung mitzuwirken?

Eines ist klar: Solange dieser schreckliche Krieg wütet, ist zumeist nur der Schrei nach Frieden hörbar, manchmal auch der Schrei nach Rache. Deswegen müssen die Waffen so schnell wie möglich zum Schweigen gebracht werden! Erst dann wird die leise Stimme des Friedens wieder hörbar werden. Wann das der Fall sein wird, haben nicht wir zu entscheiden, sondern die Opfer der Aggression, die sich wehren und ihre unbestrittenen Rechte wiedererlangen wollen. Aber wenn die Waffen schweigen, müssen wir da sein, um Formate des Gesprächs zu ermöglichen. Dann müssen wir deutlich machen, dass wir keine eigensüchtigen Interessen mit diesem Dialog verbinden, sondern am Frieden und dem Wohl der Menschen orientiert sind.

Daran mitzuwirken, sehen wir nicht nur als wichtigen Auftrag von Renovabis und der Katholikinnen und Katholiken unseres Landes an. Vielmehr erkennen wir darin eine gesamtgesellschaftliche Pflicht Deutschlands, ja vielleicht sogar der europäischen Staatenfamilie. Deswegen ist es wichtig, den Menschen in der Ukraine einen konkreten Weg in die Europäische Union zu weisen und mit ihnen auch alle jene Staaten, die ebenfalls vom Gift des russischen Großmachtsstrebens bedroht werden: Moldawien genauso wie Armenien und Georgien.

Dann wird Europa wieder zu dem Friedensprojekt, das die Väter der europäischen Einigung nach den schrecklichen Verheerungen des zweiten Weltkrieges im Blick hatten.


Thomas Schwartz, Dr. theol. (*1964) ist katholischer Priester. Er lehrt als Professor für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Augsburg. Seit 2021 ist er Hauptgeschäftsführer von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen im Osten Europas.

Ein Gedanke zu „Der Angriffskrieg auf die Ukraine dauert schon fast zwei Jahre“

  1. Ich möchte mich nicht zu der wunderbaren Hilfe von Renovabis für die Menschen in der Ukraine äußern, weil es mich bei dieser Gelegenheit doch zu ein paar politischen Sätzen drängt.
    Eine Niederlage der Ukraine in diesem Krieg wäre ein Katastrophe, weil es dann die Ukraine mit ihrem Freiheitswillen nicht mehr gibt. Eine Niederlage Russlands wäre eine Chance, dass das diktatorische und kurrupte Regime Putin, das scheindemokratisch und unterdrückend ist, eventuell beendet sein könnte. Das wäre gut für die Menschen Russlands und für ein angstfreies Ost- und Mittel-Europa.
    Zur Zeit sind die Aussichten eher schlecht. Die anfängliche Geschlossenheit des Westens verfliegt. Das Interesse bei uns an der Existenz und der Freiheit der Ukraine lässt nach. Kaum jemand interessiert sich mehr dafür.
    Dringend nötig ist eine neue, große Mobilisierung der Entschlossenheit und der Herzen für eine verstärkte Welle massiver Unterstützung der Ukraine. Von wen kann eine solche Initiative zu neuer Mobilisierung ausgehen?

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