Klaus Mertes SJ sieht in der westlichen Kritik an Traditionen mangelnden Respekt vor Traditionen, und auf der östlichen Seite die Versuchung, Kritik von Traditionen mit Respektlosigkeit vor Traditionen zu verwechseln.
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Klaus Mertes
Religion in Ost und West
Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verständnis der christlichen Kirchen
Putins Politik und der Ukraine-Konflikt haben Ost-West-Spannungen in Europa wieder in den Vordergrund gerückt. Das birgt auch die Gefahr in sich, dass sich die christlichen Kirchen voneinander entfernen, Ökumene erschwert und Religion politisch instrumentalisiert wird. Um dem entgegen zu wirken ist es wichtig, sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den christlichen Kirchen in Ost und West zu vergegenwärtigen
1. Re-ligion (Rück-Bindung) ist vor allem Leben aus einer Gottes- oder zumindest Transzendenzbeziehung. Aus dieser gelebten Beziehung heraus entwickeln sich Traditionen, Haltungen und Werte. Ohne diesen Beziehungsaspekt verkommt Religion zu einer im letzten unglaubwürdigen Moralagentur. Zugleich droht die Idolisierung von „Werten“ (Traditionen, Nation, Interessen), die so behandelt werden, als ob sie über den Menschen, über dem Leben stünden. Bedrohungen der Religionsfreiheit der Anderen sind unverkennbare Indikatoren für eine solche Entwicklung, und ebenfalls die Instrumentalisierung von Religion für Gewaltakte und Kriege. Die Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts belegen diese Gefahr ebenso wie heutige Kriege und Gewaltakte, die „im Namen Gottes“ ausgeführt werden – nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Europa. In biblischen Kategorien gesprochen kommt hier die Kategorie der „Verwirrung“ (griechisch: dia-ballein) und die daraus folgende „Verblendung“ zum Tragen, die Irrationalität für rational hält, Gewalt für Notwehr, und Blasphemie für Gottesdienst.
2. Religion gründet in unserer anthropologischen Struktur. Daher entwickeln sich vielfältige Religionsformen zunächst naturwüchsig. Was abstirbt, sind in der Regel historisch kontingente Formen von Religiösität. Darin liegen sowohl Potentiale der Befreiung und Erneuerung als auch des Verlustes und Rückschritts. Auch wenn uns unsere religiöse/transzendentale Sehnsucht vor-gegeben ist, so unterliegen die historisch kontingenten Antworten auf diese Sehnsucht erheblichem Wandel. Zugleich haben die Religionen in ihrer Entwicklung eine Vielzahl von Versuchungen abzuwehren. Von daher benötigt die Auseinandersetzung mit Religion, nicht zuletzt um der Religion und eines menschenwürdigen Lebens willen, eine profunde Religionskritik, wie sie – geschichtlich gesehen – mit der biblischen Aufklärung und der antiken Philosophie begann. Dies schließt die politischen Religionen des Faschismus und Kommunismus ebenso mit ein wie säkulare Zivilreligionen einschließlich solcher „atheistischer“ Prägung.
3. Religion spielt sich immer in einem Spannungsfeld ab, genauer: in einem Spannungsfeld von Transzendenz und Immanenz. Im christlichen Kontext findet sich die Spannung konkret im Verhältnis von Kirche und Staat/Politik wieder. Diese Spannung „des In-der-Welt aber nicht von Von-der-Welt“ ist oftmals schwierig auszuhalten. Die Auseinandersetzung um das rechte Verhältnis von Religion und Politik zieht sich durch die Kirchengeschichte. Dabei sind verschiedene Versuchungen mit großer Kontinuität zu beobachten, die in der Regel darauf hinaus laufen, die Spannung zum einen oder anderen Pol hin aufzulösen.
Da wäre zum einen der weltflüchtige Rückzug in die Innerlichkeit. Sie führt faktisch zu einer Unterordnung der Religion unter die bestehenden Verhältnisse. Eine andere Versuchung ist die theokratische Versuchung, die Überordnung der Religion. Die orthodoxe Tradition hat den Gedanken der „Symphonia“ von „Religion“ (gemeint: die orthodoxe Kirche) und Politik entwickelt. Das Verständnis der Zusammengehörigkeit von beiden ist der katholischen Tradition durchaus nahe, wenn auch in der katholischen Kirche das Papsttum hier eine besondere Rolle spielt (der Vatikan als eigener Staat und zugleich als Antipode zum staatlichen Machtanspruch auf die Kirche). Das Symphonie-Konzept steht in der Versuchung, die Spannung zwischen Religion und Politik durch ordnungspolitische Verabredungen aufzulösen. Am Ende droht die Glaubwürdigkeit des religiösen Zeugnisses Schaden zu nehmen, und der Politik fehlt der kritische Gegenpol. Ähnliche Schwierigkeiten können in Folge der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre auftreten.
Auf der russisch-orthodoxen Seite hat nach meiner Kenntnis kein Theologe die Versuchung der Kirche zu einem problematischen Bündnis mit dem Staat im Namen so deutlich angesprochen wie Alexander Men. Auch auf der westlichen Seite gibt es heute eine neue Sehnsucht nach einer größeren Nähe zwischen Politik und (christlicher) Religion. „Wir sind Christen, ob wir nun glauben oder nicht“, sagte kürzlich Wladimir Jakunin in einem Interview (DIE ZEIT, 22.5.2014, S.5.) Solche Töne kommen in Westeuropa auch aus der „Neuen Rechten“ und sind eine Versuchung für die dortigen Kirchen. Sie verheißen den Kirchen politischen Bedeutungsgewinn um den Preis des Verlustes ihrer religiösen Substanz.
4. Das Denken in Kategorien der Symphonia wird durch die Pluralisierung der Lebens- und Religionswirklichkeiten herausgefordert. Die Frage, vor der wir in Ost wie West stehen, scheint mir zu sein: Wie können wir Lebensverhältnisse schaffen, die der Würde des Menschen angemessen sind? Zu dieser Angemessenheit gehört unverzichtbar die Freiheit, insbesondere die Religionsfreiheit. Dies schließt die Freiheit zur persönlichen Ablehnung von Religion mit ein. Die katholische Kirche, die bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhundert die Religionsfreiheit ablehnte, hat auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) eine Wende vollzogen (um den Preis einer inneren Spaltung, die zuletzt im Pontifikat von Benedikt XVI im Verhältnis zur Pius-Bruderschaft sichtbar wurde). „Nicht die Wahrheit, sondern Personen haben Rechte“, das war die Erkenntnis, die dieser Wende zugrunde lag. Sie war auch eine lehramtliche Konsequenz aus der Erfahrung der beiden großen kriegerischen Katastrophen des letzten Jahrhunderts.
Die alte Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Ordnung besitzt weiterhin große Sprengkraft. Während es verallgemeinernd gesprochen die westliche Versuchung ist, die individuellen Freiheiten ohne die mühselige Auseinandersetzung mit den Erfordernissen des Allgemeinwohls und der Gemeinschaft zu fordern, besteht die östliche Versuchung darin, die Erfordernisse der Ordnung oder der Gemeinschaft zu Ungunsten der individuellen Freiheitsrechte zu bevorzugen. Während die westliche Seite es in der Kritik an Traditionen an Respekt vor Traditionen mangeln lässt, ist die östliche Seite in der Versuchung, die Kritik von Traditionen mit Respektlosigkeit vor Traditionen zu verwechseln. Die erhitzten Wertedebatten zwischen Ost und um West um den Themenkreis Homosexualität spiegeln zurzeit diese Spannung besonders deutlich wieder.
5. Was ist zu tun? Zunächst einmal ist dem drohenden Verlust einer gemeinsamen Sprache zwischen Ost und West zu wehren. Das geht nur über den Weg der Empathie in die Anliegen der anderen Seite und über eine kritische Überprüfung der eigenen Sprache. Wenn Sprache nur noch Quelle von Missverständnissen ist, kehrt gegenseitiges Anbrüllen und/oder Schweigen ein, und hinter dem Schweigen rüstet die Gewalt auf. So schlitterten im letzten Jahrhundert die Nationen Europas – angeblich im Namen Gottes oder angeblicher Höchstwerte – in zwei Weltkriege. So soll es sich im 21. Jahrhundert nicht wiederholen.
Klaus Mertes SJ (1954) ist Kollegsdirektor kam Kolleg St. Blasien. Er hat Slawisitik und Klass. Philologie in Bonn studiert und 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosphie und kath. Theologie in München und Frankfurt a. M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem 2. Staatsexamen für Kath. Religion und Latein war er Lehrer an der St. Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen er Rektor er 2000-2011 war. Klaus Mertes ist Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken und im Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944