Christian Meißner unterstreicht, dass evangelische Ethik niemals eine starre Prinzipien- oder reine Gesinnungsethik ist, sondern stets konkrete (unvollkommene und fehlbare) Verantwortungsethik.
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Christian Meißner
Reformation und Politik
Das Reformationsjubiläum steht vor der Tür. Als evangelische Christen in der Politik haben wir ein besonderes Interesse daran, neben der mit diesem Jubiläum notwendiger Weise verbundenen, historischen Rückschau sowie den vielfältigen, insbesondere auch kulturellen Erinnerungs- und Gedenkperspektiven vor allem auch die Gegenwartsbedeutung, die bleibenden Prägungen und die entscheidenden Impulse für unser heutiges ethisches und politisches Denken und Handeln neu ins Bewusstsein zu rufen.
Und hier ist nun mit Sicherheit zuallererst die lutherische Wiederentdeckung der biblisch-paulinischen Rechtfertigungsbotschaft anzuführen, die zu einem völlig neuen Verständnis evangelischer Freiheit und verantwortlicher Weltgestaltung geführt hat. Sie besagt: Wir sind gerechtfertigt vor Gott nicht durch uns selbst, unsere Leistungen oder unsere Taten, sondern allein im Glauben an Jesus Christus befreit. Dieser befreiende Glaube bewahrt uns vor allen möglichen Illusionen über uns selbst sowie vor allen menschlichen Allmachtphantasien, Utopien und Ideologien. Und er ermutigt uns gleichzeitig zur beherzten und gewissenhaften Tat.
Die Reformation kann insofern auch als eine große Freiheitsbewegung begriffen werden. Mit Luther begreifen wir neu: Durch den Glauben befreit, kann ich mich getrost engagieren und wirken, auch wenn meine menschlichen Kräfte und Möglichkeiten letztlich immer begrenzt, irrtumsanfällig und vorläufig bleiben. Weil ich durch Christus gerechtfertigt bin, kann ich überhaupt erst Mut zur Verantwortungsübernahme haben. Daraus ergeben sich bis heute sehr anregende Perspektiven. Evangelisches Freiheitsbewusstsein verwirklicht sich immer in sozialer und relationaler Weise. Die Freiheit des Christenmenschen ist eben nicht die radikale Freiheit von allem und jedem, sondern die Freiheit in Bindung und Verpflichtung, die sich gleichermaßen um Verantwortung für sich selbst wie auch für andere bemüht. Der Mensch existiert nach christlicher Vorstellung somit nicht in erster Linie autonom für sich, so wie es das Dogma einer individualistisch-hedonistischen Gesellschaftskultur immer gerne definieren möchte, sondern in den elementaren Verantwortungsbezügen einerseits zu Gott und andererseits zum Nächsten.
Dieser neue theologische Freiheitsbegriff der Reformation führte dann in der Folge, wie Martin Honecker zu Recht betont, auch zu einem neuen, ganz bestimmten „Lebensstil“1, den man auch als evangelische „Weltfrömmigkeit“ bezeichnen kann: Der entscheidende Ort des Dienstes der Christen in der Welt ist nun sein weltlicher Beruf. Und im „Beruf“ schwingt in der Reformationszeit – im Gegensatz zu heute – noch die geistlich-religiöse Dimension der Wortbedeutung „Berufung“ deutlich mit. Die christliche Berufung und gewissermaßen der wahre „Gottes-Dienst“ bestand für Luther – im Gegensatz zum kirchlichen Mainstream und Frömmigkeitsbewusstsein seiner Zeit – nun nicht mehr in der klösterlichen Abgeschiedenheit oder dem geistlichen Rückzug aus dieser Welt, sondern in dem genauen Gegenteil: dem Berufen-Sein von Gott in die Verantwortlichkeiten dieser Welt als dem vorzüglichen „Ort des christlichen Lebens“2. Daraus resultiert bis heute die besondere evangelische Hochschätzung von weltlichem Beruf, Arbeitsleben und konkret-verantwortlicher Weltgestaltung, nicht zuletzt auch in den Bereichen von Politik, Staat und Gesellschaft, Ehe und Familie sowie Wirtschaft.
Und keineswegs darf vergessen werden: Luther ist uns natürlich auch heute noch ein Vorbild in puncto Freiheits- und Gewissensbindung und der freimütigen, beherzten Rede. Wer wie Luther auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 allein vor Kaiser, Reich und Papstkirche für seine eigenen Glaubens- und Gewissensüberzeugungen gerade steht und weder „Tod noch Teufel“ fürchtet, der ist erwiesenermaßen alles andere als ein untertäniger Duckmäuser. Wir erleben hier einen Menschen, der, weit vor seiner Zeit, nicht nur mutig auf seine persönliche Bekenntnisfreiheit bestanden hat und gegenüber weltlichen Mächten, Gewalten und Autoritäten regelrecht antiautoritär sowie ideologie- und sozialkritisch zu agieren wusste. Wir erleben hier gleichzeitig einen Menschen, der sich trotzdem immer seiner grundsätzlichen Begrenztheiten, Abgründe und Versuchungen sehr bewusst war und darüber auch oft in Anfechtungen und Gewissensnöte geriet. Dass wir eben nicht durch uns selbst, unsere sittliche Vortrefflichkeit oder durch unsere guten Werke erlöst und gerechtfertigt werden, gilt somit auch für die eigene Gewissensbildung und Gewissensbindung in den ganz konkreten Bereichen unserer Lebensführung.
Für den gesamten Bereich der Ethik und der Politik bedeutet das nun eine wichtige Präzisierung: Weder unser menschliches Tun und Handeln noch unsere bloße Gesinnung oder unser bloßes Wollen dürfen von uns zu letzten bzw. absoluten Beurteilungs-Maßstäben erklärt werden. Luther wusste als großer am Evangelium geschulter Seelenkenner noch, auf welch tönernen Füßen unsere eigenen, vermeintlichen moralischen Gewissheiten und hochtrabenden Selbstbilder stehen, mit denen wir bisweilen unsere Nächsten zu beurteilen oder gar gnadenlos zu richten pflegen. Unsere christlichen Verantwortung in Kirche, Politik und Gesellschaft kann darum auch ebenso wenig einfach als die unmittelbare Umsetzung direkter biblischer Weisungen oder göttlicher Gebote verstanden werden. Evangelische Ethik ist niemals eine starre Prinzipien- oder reine Gesinnungsethik, sondern stets konkrete (unvollkommene und fehlbare) Verantwortungsethik.
In Zeiten leider wieder erstarkender religiöser und ideologischer Fundamentalismen ist das hoch aktuell: Denn ein wahrer, befreiter und lebendiger Glaube muss immer zuerst persönlich Rechenschaft ablegen können. Und er muss sich immer auch selbstkritisch reflektieren können. Das unterscheidet ihn von allen religiösen Zerrformen und auch von totalitären Ideologien. Denn deren Kennzeichen sind stets Gruppenzwang, Konformismus und Gleichschritt sowie die Unterdrückung der Meinungsvielfalt.
Pastor Christian Meißner (1968) lebt in Berlin und ist seit 2003 Bundesgeschäftsführer des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK).
1 Vgl. Martin Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, Berlin/New York 1990, S. 286.
2 Ebd.