Klaus Mertes SJ fordert, das Land nicht mit Herzenshärte, sondern mit der Bergpredigt in Herz und Kopf zu regieren.
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Klaus Mertes
Taugt die Bergpredigt als Regierungsprogramm ?
Dass man ein Land nicht der Bergpredigt regieren könne, gehört zu oft unhinterfragten politischen Allgemeinplätzen. Ein Staat müsse gerecht sein, nicht barmherzig. Aber stimmt das? Muss sich Politik gegen Einsprüche des Herzens hart machen, um regieren zu können?
Zunächst: Die Bergpredigt ist Jesu Beitrag zur Auslegung der Tora, des Gesetzes Israel. Allein schon deswegen ist sie ein politischer Text. Denn die Tora – einschließlich des Dekaloges – ist keineswegs nur eine moralische Instruktion für das Verhalten von Einzelpersonen, sondern ein Verfassungsentwurf. Die Bergpredigt wendet sich auch nicht gegen die Tora, etwa um sie zu ersetzen, sondern ist Jesu Beitrag zur Auslegung der Tora. Zum Beispiel die Entschädigungsregelung im jüdischen Gesetz – ein Quantensprung gegenüber dem Blutracheprinzip, das typisch ist für Stammesgesellschaften. Sie verpflichtet Täter zu angemessenen Schadensersatz gegenüber dem Opfer: „Du sollst geben: Auge für Auge, Zahn für Zahn.“ (Ex 21,23) Aus der Perspektive der Opfer kann daraus ein Recht auf Vergeltung konstruiert werden – „wenn ich Opfer bin, darf ich mir nehmen: Auge für Auge, Zahn für Zahn.“ Genau diese Verdrehung geschieht tagtäglich und ist das eigentliche Prinzip hinter aller Gewalteskalation. Die Bergpredigt bestreitet diese Auslegung. Ich wüsste kaum ein politisches Thema, das heute aktueller wäre.
Oder das Gebot der Feindesliebe: „Liebet eure Feinde und tut Gutes denen, die euch hassen.“ Das Feindesliebegebot verschweigt nicht, dass Menschen einem zum „Feind“ werden können. Wer sich in der Bibel umschaut, wird sehen, dass Gewalt von Anderen gegen „mich“ ganz realistisch, ohne Empathie für die Gewalttäter dargestellt wird. Deswegen bedeutet das Wort „Liebe“ in diesem Kontext – und auch sonst in den Bibel – nicht: „Nette Gefühle haben, sympathisch finden“, oder ähnliches. Vielmehr meint Feindesliebe: „Auch dein Feind hat Rechte. Achte sie!“ Oder um es in der Logik der Goldenen Regel zu sagen: „Behandle deinen Feind, der sich an dir verschuldet hat, so, wie du behandelt werden möchtest, wenn Du Dir einen Menschen schuldhaft zum Feind gemacht hast.“
Antoine Leiris, der seine Frau in der Pariser Terrornacht vom 13.11.2018 verlor, schrieb an ihre Mörder: „Meinen Hass bekommt ihr nicht.“ Das ist eine eindrucksvolle Übersetzung des bekannten Bildes, das Jesus in der Bergpredigt benutzt und mit dem er das Gebot der Feindesliebe steigert: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte auch die andere Wange hin.“ Feindesliebe ist nicht nur eine Chance für den Feind, den „Feind“ anders zu sehen und ihn so zu „entfeinden“ (Pinchas Lapide), sondern sie ist auch ein Weg aus dem eigenen Hass, dessen Existenz Leiris ja bei sich selbst nicht bestreitet. Hass, oder besser: Hassgefühle sind aber gerade sehr aktuell Teil des politischen Diskurses.
Barmherzigkeit steht in der Mitte der Seligpreisung, die als Überschrift über dem ganzen Text der Bergpredigt stehen: „Selig die Barmherzigen.“ Das Stichwort wird der Sache nach am Ende des Textes mit der Goldenen Regel wieder aufgegriffen: „Was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen. Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“ Barmherzigkeit und Nächstenliebe-Gebot, zwei Seiten einer Medaille, umrahmen die Bergpredigt. Sie sind also der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Textes.
Gibt es Grenzen für die Barmherzigkeit? Diese Frage wird im berühmten Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ verhandelt. Ein Mann liegt, von Räubern ausgeplündert und erschlagen, am Wegesrande. Ein Priester und ein Levit aus Judäa sehen ihn und gehen weiter. Ein Mann aus Samarien sieht ihn, bleibt stehen und hilft ihm. Hier werden zwei Dinge klargestellt: Barmherzigkeit besteht darin, sich ganz konkret von der Not des Anderen berühren und unterbrechen zu lassen. Und sie räumt die Grenzen zwischen „wir“ und „die“ ab, in diesem Falle die zwischen den verfeindeten Bewohnern von Judäa und Samarien. Ein Gegensatz zum Anliegen der Gerechtigkeit besteht nicht. Vielmehr ist Barmherzigkeit sensibel für Ungerechtigkeit und setzt sich für ihre Überwindung ein. Barmherzigkeit ist politisch. Sie hilft nicht bloß ganz konkret, sondern sie nimmt Anstoß an Verhältnissen, die dazu führen, dass Menschen am Wegesrande liegen – und verändert sie.
Im Sommer 2015 konnte Deutschland life miterleben, wie es ist, wenn Politik auf einen geschlagenen Menschen am Wegesrande trifft. Das Mädchen Reem Sahwil von der Paul-Friedrich-Scheel-Förderschule in Rostock brach während einer Veranstaltung mit der Bundeskanzlerin in Tränen aus. Reem hatte Angst vor ihrer anstehenden Abschiebung. Die Reaktion von Angela Merkel wirkte unsicher. Sie war gewissermaßen wie der Priester im Gleichnis des Evangeliums, der jetzt trotz seiner vielfältigen, drängenden und wichtigen Aufgaben festgehalten wurde und stehen bleiben musste – eingeklemmt zwischen der spontanen Herzensregung (auf das Mädchen zugehen und sie streicheln) und den Zwängen und Grenzen verantwortlicher Politik („Wenn wir jetzt sagen, ihr könnt alle kommen … das können wir auch nicht schaffen“).
Die Unsicherheit der Reaktion ehrt sie. Sie macht etwas deutlich, worüber sich nachzudenken lohnt. Einerseits: Der konkrete Einzelfall kann nicht der alleinige Bezugspunkt für Entscheidungen staatlicher Repräsentanten sein. Es bleiben Verantwortlichkeiten über den Einzelfall hinaus, sowie komplexe Abwägungen in Hinblick auf Konsequenzen für das Allgemeinwohl. Aus der Erschütterung über den Einzelfall folgt auch nicht zwingend eine bestimmte und sonst keine andere politische Konsequenz. Das alles zu bedenken stellt hohe Anforderungen an die politische Klugheit, aber auch an die politische Herzensbildung. Denn andererseits bleibt die Bereitschaft, sich vom notleidenden „Antlitz des Anderen“ (Emanuel Levinas) ansprechen zu lassen, unverzichtbar, auch für den politischen Diskurs. Der Anblick des geschlagenen Menschen am Rande rüttelt nämlich auf und gibt zu denken.
Barmherzigkeit ermöglicht Einblicke in die Realität, die es ohne sie nicht gibt. Sie ist eine weiche Stärke – weich, weil sie sich nicht abschottet gegen die in der Erschütterung liegende mögliche Erkenntnis. Das Gegenteil von ihr ist die Herzenshärte – eine schwache Härte, eine Härte aus Schwächlichkeit, die nur scheinbar stark wirkt. Sie schützt sich selbst gegen Erschütterung, gegen Verunsicherung durch die fremde Not, da sie diese nicht als Beitrag zur Fortbildung der eigenen politischen Urteilskraft aushält. Sie hängt im Tunnelblick ihrer „Realpolitik“ fest und verliert dabei den Blick für die Realität, einschließlich für das Unheil, das „Realpolitik“ anstellt, die wie ein Elefant im Porzellanladen der komplexen Wirklichkeit herumtrampelt. Der biblische Kommentar dazu lautet: „Sie sehen und sie erkennen nicht.“ Herzenshärte führt eben zu Wahrnehmungs-Störungen. Und die sind in der Politik besonders gefährlich. Also: Regiert das Land mit der Bergpredigt im Kopf und im Herzen!
Klaus Mertes SJ (1954) ist Kollegsdirektor am Kolleg St. Blasien. Er hat Slawisitik und Klass. Philologie in Bonn studiert und 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosphie und kath. Theologie in München und Frankfurt a. M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem 2. Staatsexamen für Kath. Religion und Latein war er Lehrer an der St. Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen er Rektor er 2000-2011 war. Klaus Mertes ist Redakteur der Jesuiten-Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ , war Mitglied im Zentralkomitee der dt. Katholiken und ist im Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944