„LEITKULTUR“ – DAS WORT UND DIE SACHE

Hans Maier plädiert dafür, in der Debatte um die Leitkultur weniger um das Wort zu streiten und sich mehr Gedanken um die Sache zu machen. Er nennt vier notwendige Bedingungen für das Zusammenleben.

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Hans Maier

„Leitkultur“ – das Wort und die Sache

Den Satz „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ kann man ebenso zu den Akten legen wie die fröhliche Erwartung, unterschiedliche Kulturen verschmölzen von selbst und ohne Probleme miteinander. Umso genauer sollte man die Lebenswirklichkeit berücksichtigen: Familien, Schulen, Betriebe, das soziale Leben, das bürgerschaftlichen Engagement. Damit Integration gelingt, bedarf es weniger, aber zentraler Bedingungen. Sie sollten bundeseinheitlich festgelegt und beachtet werden.

Ich sehe vier solcher Bedingungen, die notwendig, ja für das Zusammenleben unentbehrlich sind:

Erstens die Beachtung des staatlichen Gewaltmonopols, also den Ausschluss von Gewalt und Selbsthilfe. Plakativ gesprochen: unsere Rechtsordnung gilt für Alt- und Neubürger. Die Prägung eines Täters durch die Vorstellungswelt eines anderen Kulturkreises hat demgegenüber zurückzustehen. So kann beispielweise die „Ehre“ eines Kollektivs keinen Vorrang haben vor den elementaren Rechten des Individuums. „Ehrenmörder“ können vor deutschen Gerichten auf keinen Kultur-Bonus hoffen.

Zweitens die Anerkennung der Religionsfreiheit, konkret der Verzicht auf die gewaltsame Durchsetzung der eigenen Religion im familiären und gesellschaftlichen Umkreis. Das Problem ist jüngst durch den Fall Abdul Rahman, einen in Deutschland zum Christentum konvertierten Afghanen, dem in Afghanistan die Todesstrafe drohte, in ein grelles Licht gesetzt worden. Einbürgerungswillige Muslime dürfen ihre religionsmündigen Söhne und Töchter auf keinen Fall am Übertritt zu anderen Religionen hindern. Die Todesstrafe für Apostasie nach Scharia-Recht ist für Deutschland (und generell für Rechtsstaaten, die die Menschenrechte achten) indiskutabel.

Drittens die Gleichberechtigung (und Gleichachtung) der Geschlechter. Sie ist im Integrations-Alltag eine überaus wichtige, in keinem Fall abzuschwächende Forderung. Die Realisierung ist, wie bekannt, überaus schwierig. Viele Migrantinnen, vor allem die auf 10 000 Personen jährlich geschätzten Import-Bräute (man verzeihe das uncharmante, aber leider treffende Wort), führen buchstäblich ein Leben in Dunkel: ohne soziales Netz (wie in der früheren Heimat), unzureichend mit Deutschkenntnissen ausgestattet, werden sie weder von ihren schulisch besser integrierten Kindern noch von der deutschen Gesellschaft ernst genommen und gestützt. Während ihre Männer, soweit nicht arbeitslos, in der Arbeitswelt leben, sind sie sozial weitgehend isoliert.

Viertens die Kenntnis der deutschen Sprache und der in der Sprache aufbewahrten Geschichte und Kultur des Gastlandes. Hier geht es nicht nur um das Funktionelle und Praktische, um den notwendigen Dienst der Sprache als Verständigungsmittel – es geht auch um eine (je nach Lage, Begabung, Neigung sicher unterschiedlich intensive) Nähe zur umgebenden deutschen Kultur. Richard Schröder hat das einmal am Interesse eines libanesischen Taxifahrers in Berlin an deutschen Straßennamen (Bachstraße, Händelstraße) festgemacht und daran die Feststellung geknüpft: „Wer mit den Namen der wichtigsten Straßen und Plätze in unseren Städten etwas verbinden kann, kennt sich in der deutschen Kultur ganz gut aus“. Vielleicht wird er sich sogar – füge ich hinzu – eines Tages für die deutsche Kultur im ganzen interessieren, von Gutenberg bis Goethe, vom Allgemeinen Landrecht bis zum Sozialstaat, vom „Lied“ bis zum „Kindergarten“, von Grünewald bis zu den Expressionisten und den „Neuen Wilden“ unserer Gegenwart.

Ist das alles nun Teil einer „deutschen Leitkultur“ – oder ist es eher ein Ausdruck für den zivilisatorischen Standard, den Europa, der Westen, die heutige globalisierte Welt verkörpern? Es ist beides; und so wollen wir den Streit um das Wort Leitkultur getrost denen überlassen, die ihn seit Monaten mit unerschöpftem Eifer führen.

In Deutschland streitet man gern um Worte, wenn man sich an eine Sache nicht herantraut oder vor ihr ausweichen will. Das Wort Leitkultur, seitdem es Bassam Tibi erfunden und popularisiert hat, ist ein solches Streitwort; es weckt immer wieder erstaunliche Emotionen. Sind die einen versucht, das Wort fast zu küssen, ehe sie es aussprechen, so wollen die anderen nie und nirgendwo in seiner Begleitung auf der Straße angetroffen werden. Seit ich gesehen habe, dass dieser Streit um Worte höchst unnötigerweise Kräfte verschleudert und Energien bindet, spreche ich das Wort nur leise aus, rede aber umso deutlicher zur Sache.

Theo Sommer, Herausgeber der ZEIT, schrieb 1998: „Ein Deutschland, das aus lauter Ghettos besteht, ein paar für Türken, ein paar für Griechen, ein Dutzend für die Deutschen – das kann nicht Ziel sein. Die Vielfalt hat sich in der Einheit zu bewähren. Integration bedeutet zwangsläufig ein gutes Stück Assimilierung an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte.“ Das ist kernig formuliert. Mir würden schon die erwähnten vier Forderungen genügen. Sie sind anschlussfähig an europäische, westliche, universelle Werte.

Von der französischen tournure – der gallischen „Leitkultur“ seiner Zeit – sagte Goethe 1821, sie sei „eine zur Anmut gemilderte Anmaßung“. Ich hoffe, dass das heutige Deutschland genug Anmut hat, um ohne Anmaßung geltend zu machen, was dringlich ist.

Hans Maier (1931) wurde 1962 Professor für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilian-U­niversität München und war 1970 bis 1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus so­wie von 1976 bis 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1988 bis 1999 war er ordentlicher Professor für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universi­tät München (Guardini Lehrstuhl).

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