DIE WICHTIGSTE FLUCHTURSACHE SIND WIR SELBST

Thomas Schwarz sieht im ökonomischen System regional wie global die Ausbeutung von ohnehin Armen durch die Reichen und in unserer Lebensweise die eigentliche Fluchtursache.

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Thomas Schwarz

Das Dreieck ist eine runde Sache:
Die wichtigste Fluchtursache sind wir selbst

Bei einem Besuch in Ruanda befragte ich einmal Elie Nduwajesu über die Ursachen der Armut. Er arbeitete damals für eine internationale Hilfsorganisation. Zusätzlich unterstützte er gemeinsam mit seiner Frau Dutzende Kinder, die in bitterer Armut lebten und nach dem Genozid von 1994 ohne Eltern waren. Für ihn bedeutete Entwicklungshilfe, vor allem die Ursachen der Armut zu beseitigen. Er schuftete für dieses Ziel bis an den Rand der physischen Erschöpfung. Ich bin mir nicht mehr sicher, welcher Religion seine Frau und er angehörten. Aber sie handelten zutiefst christlich. Muslime würden vermutlich sagen: zutiefst muslimisch, und Juden zutiefst jüdisch und so weiter.

Bildung, Gesundheit, Nahrung  

Im Grunde wollte ich mich bei diesem Gespräch lediglich der Korrektheit meiner Auffassung vergewissern; jene Sicht der Dinge also, die wir bis heute für uns reklamieren, wenn wir über die „Bekämpfung der Fluchtursachen“ faseln. Ich war der Auffassung, dass Bildung alleine die entscheidende Basis jedweder Entwicklung sei und ohne sie keine Entwicklung möglich sei. Und dass der Mangel an Bildungsmöglichkeiten die wesentliche Ursache der Armut sei. Elie Nduwajesu bestätigte meine Gedanken – zunächst. Ja, Bildung, die sei wichtig. Ohne lesen und schreiben zu können sei Entwicklung nicht vorstellbar. Wir waren uns also einig, und ich fühlte mich wohl in meinem reichen Kopf. Dann fragte er: „Was aber geschieht, wenn jemand Hunger hat? Kann er oder sie dann gut lernen?“

Während ich zuhörte, erinnerte ich mich an das Sprichwort „Leerer Bauch studiert nicht gern“. Also reiche es nicht, sich um Schulen und Lehrer zu bemühen; die Jugendlichen müssten natürlich auch ausreichend Nahrung haben. Und es müsse zudem eine gesunde, ausgewogene Ernährung sein. Dann könne es gelingen. Da hatten wir also die beiden entscheidenden Kriterien für eine Entwicklung in armen Ländern herausgearbeitet. Nachdem ich begeistert meine neuen Erkenntnisse zusammengefasst hatte, hob Elie erneut an. „Selbst, wenn Du also eine Schule besuchen kannst und genügend zu essen hast: was geschieht, wenn Du krank bist und der nächste Arzt oder das nächste Krankenhaus Dutzende von Kilometern entfernt sind? Dann wirst Du auch nicht gut lernen können. Also ist die Gesundheit ebenso wichtig wie Bildung und Nahrungssicherheit.“ Dabei legte er die Betonung nicht auf das Wort Nahrung, so wie wir es aussprechen würden, sondern auf „Sicherheit“. Erst dieses interdependente Dreieck macht Armutsbekämpfung zu einer runden Sache.

Armutsbekämpfung bedeutet Fluchtbekämpfung

Es geht bei der Bekämpfung von Fluchtursachen aus christlicher Sicht natürlich nicht darum, möglichst wenige Flüchtlinge hierzulande aufnehmen zu müssen. Jeder einzelne Mensch hat ein Recht auf Nächstenliebe; besonders dann, wenn er in Not geraten ist. Es geht vielmehr um das Gebot der Nächstenliebe. Auch, wenn uns das jemand weis machen will: Die Ursache für die Flucht von Millionen Menschen liegt ja nicht etwa in der Unterfinanzierung von Flüchtlingslagern oder von zwei Millionen Syrern und Irakern auf türkischem Staatsgebiet. So zu argumentieren ist zynisch und zutiefst unchristlich. Abgesehen davon hält es die Leute hierzulande für dumm. Die gewissenlose und ungebremste Ausbeutung der sogenannten „Dritten Welt“ durch uns: das ist die Hauptursache für Armut. Franziskus sagte im September: „Wo die Ursachen im Hunger liegen, muss man Arbeit schaffen und Investitionen tätigen.“ Das aber geschieht zu wenig, zu langsam und fast immer vor allem auf den eigenen (Handels)Vorteil bedacht.

Papst Franziskus bezeichnet die heutige Fluchtbewegung als „die Spitze des Eisbergs“. Damit hat er recht. Ihre Ursache, so sagte er weiter in einem Interview mit dem portugiesischen Radio Renascenza, sei „ein schlechtes und ungerechtes sozioökonomisches System.“ Das herrschende System stelle den „Gott des Geldes und nicht mehr den Menschen in den Mittelpunkt.“ Diesen Eindruck Franziskus’ teilen viele. Solange das sogenannte „christliche Abendland“ nicht bereit ist, es dem Heiligen St. Martin nachzutun, wird es unerträgliche Armut und dadurch auch immer Menschen geben, die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie sonst nicht überleben könnten. In diesem Sinne Franziskus’ klingt das Wort von den sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ zynisch und gottvergessen. Sie gibt es nur, weil wir so leben, wie wir leben; die eigentliche Fluchtursache nämlich sind wir selbst und unsere Lebensweise.

Das ökonomische System ist regional wie global eins der Ausbeutung von ohnehin Armen durch die Reichen. In seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ aus dem Jahr 2013 formuliert der Papst es so: „Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht töten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ sagen. Diese Wirtschaft tötet.“

Unglaubwürdiges Christentum  

In vielen Teilen des globalen Dorfes geht es keineswegs um schwierige diplomatische oder gar militärische Herausforderungen. Es geht schlicht und einfach um eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes. Bei einer Eucharistiefeier in Manila sagte Franziskus zu Beginn dieses Jahres: „Die Armen stehen im Mittelpunkt des Evangeliums, sind das Herzstück des Evangeliums.“.

Elie Nduwajesu aus Ruanda hatte ein eigenes Waisenprojekt entwickelt, dass Christen als Blaupause dienen könnte. Er nannte es – frei übersetzt – „Die, die Kinder lieben“. Es ging um Patenschaften. Dabei suchten sich nicht etwa die Erwachsenen die Kinder oder Jugendliche aus, für die sie die Verantwortung übernehmen wollten. Vielmehr entschieden die Kinder selbst, wer für sie sorgen sollte. Und die Erwachsenen sorgten dann für sie. Sie fühlten sich in die Pflicht genommen. Erst wenn alle Christen sich selbst in die Pflicht nähmen, gegen die Ursachen der weltweiten Flucht aktiv zu werden, würde unser Selbstverständnis auch real. Wenn dagegen christliche Politiker fordern, Abschiebungen zu zeigen – als „Abschreckung“ -, dann allerdings wirkt das Christentum selbst abschreckend und wird zutiefst unglaubwürdig.

Thomas Schwarz (1957) arbeitete mehr als zwanzig Jahre als Journalist (RTL, RIAS Berlin, Radio HUNDERT,6 sowie Deutsche Welle und Radio Bonn/Rhein-Sieg). Er war u.a. Parlamentskorrespondent und Chefredakteur. Zwei Jahre in der Geschäftsführung eines US-Softwareunternehmens für die Bereiche Marketing, Kommunikation und Business-Development. Danach Pressesprecher und Leiter Internationale Kommunikation für die Hilfsorganisation CARE bis Sommer 2014.

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