Norbert Lammert plädiert zum Reformationsjubiläum dafür, die Überwindung der Kirchenspaltung nicht den Kirchenleitungen zu überlassen.
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Norbert Lammert
Zum Reformationsjubiläum
Kirchenspaltung als Ärgernis
Vor 500 Jahren hat mit den Thesen von Martin Luther das begonnen, was später „Reformation“ genannt werden sollte. Damals war die Kirche bei allem äußerlichen Glanz weit vom Geist des Evangeliums abgekommen, sie hatte mit dem Reich Gottes kaum noch eine Ähnlichkeit. Nachdem Luther 1517 zunächst lediglich Thesen zum Ablasswesen verbreitet hatte, das mit der Käuflichkeit von Ämtern und den damit verbundenen handfesten Finanzierungsproblemen eine perfide Verbindung von Politik, Glauben und Religion erkennen ließ, forderte er im darauffolgenden Jahr die Einberufung eines allgemeinen Konzils, das die inzwischen reichlich vorhandenen Streitfragen innerhalb der Kirche erörtern und die Kirche selbst grundlegend reformieren sollte. Es ist eine schöne, wenn auch müßige Spekulation, was uns erspart geblieben wäre, wenn der damalige Papst und die damaligen Bischöfe auf diese nicht nur zulässigen, sondern überfälligen Forderungen eingegangen wären. Die Missstände wären wohl schneller beseitigt worden und zur Spaltung der Kirche wäre es kaum gekommen.
Tatsächlich wurden die mehr als zutreffenden, mehr als überfälligen Anliegen Luthers vom damaligen Papst Leo X zurückgewiesen. Die Geschichte ist bekannt, sie muss im Einzelnen nicht nacherzählt werden: Luther wurde zum Widerspruch aufgefordert, nachdem dieser den Papst 1520 als Antichristen bezeichnet und das päpstliche Schreiben zusammen mit dem kirchlichen Gesetzbuch öffentlich verbrannt hatte. Zweifellos Public-Relations-begabt wurde Luther dann mit einer gewissen Folgerichtigkeit 1521 aus der Kirche ausgeschlossen.
Hätte sich das Verhängnis für die Einheit der Kirche abwenden lassen, wenn der nachfolgende Papst Hadrian VI. eine längere Amtszeit gehabt hätte? Dieser hatte unmittelbar nach seinem Amtsantritt 1523 sofortige Reformen versprochen und auf dem Nürnberger Reichstag ein eindringliches Schuldbekenntnis verlesen lassen. „Wir alle“, so der damalige Papst, „wir alle, Prälaten und Geistliche, sind vom rechten Weg abgewichen und es gab schon lange keinen einzigen der Gutes tut, keinen einzigen der Gutes tat“. Hadrian starb aber noch im gleichen Jahr, sein Nachfolger war, wie man heute sagen würde, ein Hardliner, man könnte man auch sagen, ein Fundamentalist: So kam das Kirchenkonzil, das besser damals schon stattgefunden hätte, erst 1545 in Trient zusammen. Mit 18jähriger Dauer war es das längste Konzil in der Kirchengeschichte. Es wurden bei diesem Konzil weitreichende Reformen angestoßen, viele der von Luther angeprangerten Missstände beseitigt und auch die von ihm aufgeworfenen theologischen Fragen ausführlich diskutiert und zum Teil einvernehmlich entschieden. Für die Spaltung der Christenheit kam das alles zu spät. Menschenwerk.
Dass es überhaupt zur Kirchenspaltung kam und diese sich schnell verfestigt hat, hatte nicht nur theologische Gründe. Ich behaupte, es hatte weniger theologische Gründe als handfeste politische Ursachen. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das bei genauem Hinsehen weder deutsch noch römisch war, eigentlich auch kein Reich und ganz sicher nicht heilig, war die Sammelbezeichnung für Hunderte Einzelterritorien. Es war kein zentraler Staat, ein Deutschland, wie wir es kennen, gab es nicht. Deutschland war bestenfalls die Bezeichnung für einen virtuellen Zusammenhang vieler mehr oder meist weniger bedeutender Territorien, Herzogtümer und Fürstentümer. Der Kaiser als höchste Instanz im Reich wurde von den Kurfürsten gewählt, musste ihnen dafür aber die Wahrung ihrer territorialen Rechte zugestehen.
Mit Blick auf das Verhältnis von Politik und Religion ist es bemerkenswert, dass das höchste gesetzgebende Organ des Reiches die sogenannten Reichstage waren, die mit unseren heutigen Parlamenten fast nichts gemein hatten, außer den Umstand, dass Gesetze, die im ganzen Reich gelten sollten, nicht vom Kaiser allein erlassen werden konnten, sondern vom Reichstag bestätigt werden mussten. Diese Reichstage bestanden jedoch nicht aus gewählten Volksvertretern, sondern aus bevollmächtigten Vertretern der jeweiligen Feudalherrscher und der freien Reichsstädte. In ihnen waren auch die Kurfürsten, der Hochadel im Reichsfürstenrat stimmberechtigt vertreten.
Die politische Zersplitterung Deutschlands war ein wesentlicher Faktor für die Ausbreitung der Reformation und der Kirchenspaltung. Aufgrund der fehlenden politischen Zentralinstanz im Reich entschied sich das Schicksal der Reformation auf territorialer Ebene. Die Fürsten entschieden, welche Konfession in ihrem Herrschaftsbereich zu gelten hatte. Die Einführung der Reformation lag völlig unabhängig von religiösen Überzeugungen also ausdrücklich im jeweiligen Interesse der Landesfürsten, die sich auf diese Weise gleichzeitig von Kaiser und Papst emanzipieren konnten und von diesem scheinbaren Gottesgeschenk tatkräftig Gebrauch machten. Dies führte endgültig zur konfessionellen Fragmentierung des Reiches. So war‘s. Geteilt wie geeint durch gemeinsames Bekenntnis, wieder geteilt politisch und kirchlich – Menschenwerk.
Wir müssen uns heute – 500 Jahre später – mit der Frage beschäftigen, wie wir eigentlich mit dem umgehen, was damals stattgefunden hat und mit dem, was daraus geworden ist. Jeder von uns, jedenfalls jeder, der einer der christlichen Kirchen angehört, muss die Frage beantworten, ob die Unterschiede, die es zweifellos gibt, die Aufrechterhaltung der Trennung heute noch rechtfertigen. Ich glaube das nicht, schon gar nicht in der Welt des 21. Jahrhunderts mit Blick auf vorrangige und nachrangige Anliegen, Aufgaben, Ärgernisse und Herausforderungen. Für mich ist die fortdauernde Kirchenspaltung der große Anachronismus unserer Zeit. Sie ist buchstäblich aus der Zeit gefallen. Wir halten damit eine Konstruktion aufrecht, von der wir wissen, dass es für sie keine Rechtfertigung mehr gibt. Insofern ist dieses Reformationsjubiläum nicht ganz so gemütlich, wie es auf vielen der grandiosen Veranstaltungen den Anschein hat.
Wir sollen uns mit Blick auf das große Reformationsjubiläum gemeinsam mit der Frage konfrontieren, der wir am liebsten ausweichen: Warum ist das eigentlich immer noch so, warum besteht die Kirchenspaltung fort?
Ich räume auch freiwillig ein, dass mich ein Stichwort besonders nervös macht, auf das sich vor und während dieses Reformationsjubiläumsjahres nun die prominentesten Repräsentanten der beiden großen Kirchen zunehmend zu einigen begonnen haben: „Versöhnte Verschiedenheit“. Als Demokrat kann ich natürlich mit Verschiedenheiten gut umgehen und als Christ ist mir der Versöhnungsgedanke nicht völlig fremd. Aber meine Nervosität beginnt schon beim Verhältnis von Adjektiv und Subjektiv: Verschiedenheit ist die Hauptsache und die Zugabe ist versöhnt freundlich. Ich möchte es einmal so sagen: Wenn es uns in der Welt, in der wir leben, in Zeiten der Globalisierung, im Verhältnis der großen Religionsgemeinschaften auf diesem Globus tatsächlich gelingen würde, in versöhnter Verschiedenheit miteinander umzugehen, wäre das ein Fortschritt der Zivilisation.
Aber dass die christlichen Kirchen im Umgang miteinander versöhnte Verschiedenheit für das Ende der Operation „Ökumene“ erklären, ist für mich eine elegante Kapitulationserklärung. Es verwechselt den Weg mit dem Ziel. Versöhnte Verschiedenheit ist der Weg zum Ziel der Wiederherstellung der Einheit. Wenn ich aber versöhnte Verschiedenheit zum Ergebnis erkläre, habe ich das andere Ziel offenkundig aufgegeben, mindestens aber aus dem Auge verloren.
Wir sollen eins sein. So lautet die unmissverständliche Forderung Jesu im Johannes-Evangelium, aber wir sind es nicht. Wir sind nicht eins und wir müssen die Frage beantworten, ob wir nicht können oder ob wir nicht wollen. Natürlich könnten wir, wenn wir wollten. Wir wissen, dass uns unendlich mehr verbindet als trennt. Aber auch als theologisch interessierter Laie finde ich in der ernst zu nehmenden theologischen Literatur nichts mehr, was mich davon überzeugen könnte, dass es ein nicht annehmbares theologisches Hindernis für die Wiederherstellung der Einheit der Christenheit gäbe. Schon das Zweite Vatikanische Konzil hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die Trennung ein Skandal sei, für den nicht der Himmel verantwortlich ist, sondern das irdische Bodenpersonal. Aber neben der regelmäßigen Beschreibung dieses Skandals finden wir ihn offenkundig inzwischen ganz gut erträglich.
Die Kirchenspaltung ist im Lichte der Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft für Gesellschaft und Kirche ein schwer erträgliches Ärgernis. Ich zitiere an dieser Stelle einen Autor, der von der Sache mehr versteht als ich: „Und so ist die Kirche für viele heute zum Haupthindernis des Glaubens geworden. Sie vermögen nur noch das menschliche Machtstreben, das kleinliche Theater derer in ihr zu sehen, die mit ihrer Behauptung, das amtliche Christentum zu verwalten, dem wahren Geist des Christentums am meisten im Wege zu stehen scheinen.“ Das schreibt Joseph Ratzinger in seinem Standardwerk „Einführung in das Christentum“, Erstauflage 1966. Diejenigen, die sich jetzt in die voreilige Hoffnung stürzen, er hätte das als Papst nie wiederholt, mache ich darauf aufmerksam, dass dieses Werk in seiner Amtszeit neu aufgelegt worden ist – immer noch mit diesem Satz.
„Und so ist die Kirche für viele heute zum Haupthindernis des Glaubens geworden.“ Ich fühle mich nicht zuletzt durch diese theologisch fundierten Worte in meiner Überzeugung bekräftigt, dass das, was die Überwindung der Kirchenspaltung verhindert, nicht Glaubensunterschiede sind, sondern in erster Linie das Selbstbehauptungsbedürfnis von Institutionen. Und von Institutionen verstehe ich etwas. Da muss ich auch gar nicht tief in die Kirchen schauen, die ich nicht ganz so gut kenne, aber ich weiß, dass alle Institutionen – ausnahmslos – von der eingebauten Versuchung geplagt sind, sich selbst für wichtiger zu halten als die Sache, um derentwillen sie bestehen.
Deshalb glaube ich auch nicht, dass wir die Überwindung der Kirchenspaltung allein den Kirchenleitungen überlassen dürften. Dann findet sie nämlich nicht statt. Aus genau diesem Grunde aber müssen wir alle begreifen, dass wir hier selbst gefordert sind, dass jeder für sich seine jeweilige Verantwortung hat. Dazu fällt mir der schöne, den meisten von Ihnen bekannte Satz von Karl Valentin ein: „Mögen, hätte ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“ Und um nun nicht nur Luther, Ratzinger, Karl Valentin, sondern auch Ignatius von Loyola an einschlägiger Stelle zu Wort kommen zu lassen: „Man soll nie etwas Gutes, sei es noch so klein, aufschieben in der Hoffnung, in der Zukunft größeres tun zu können“. Das gilt ganz gewiss auch und gerade für die Einheit der Christenheit.
Norbert Lammert (1948) gehörte 1980 – 2017 dem Deutschen Bundestag an und war 2005 – 2017 dessen Präsident. Von 1989 – 1998 war er Parlamentarischer Staatssekretär in den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr und danach bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 2002 wurde er Vizepräsident des Deutschen Bundestages, seit 2001 ist er stv. Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er ist Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de