Hubertus Knabe sieht die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit als Zukunftskapital, weil sie hilft, den Gefahren des aktuellem Linksextremismus zu begegnen.
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Hubertus Knabe
Vorwärts und schnell vergessen?
Vergangenheitsaufarbeitung als Zukunftskapital
Fast drei Jahrzehnte sind vergangen, seitdem das SED-Regime ins Wanken geriet: Im November 1987 stürmte der DDR-Staatssicherheitsdienst die oppositionelle Umweltbibliothek in Ost-Berlin, im Januar 1988 verhaftete er Bärbel Bohley und andere Bürgerrechtler. Im Sommer 1989 flüchten DDR-Bürger massenhaft über Ungarn und am 9. November fiel die Mauer. Ist das alles Geschichte?
Ja und Nein. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, fast so viel, wie vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Nationalsozialismus. Knapp die Hälfte aller Deutschen hat das Ende der DDR nicht oder nur als Kind miterlebt und fast ein Viertel der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Für viele ist die DDR tatsächlich nur Geschichte.
Auf der anderen Seite sind 30 Jahre eine kurze Zeit. Viele Täter und Opfer leben noch. Im neuen Bundestag werden erneut mehrere ehemalige Stasi-Mitarbeiter sitzen, mit Arnold Vaatz wird ihm auch ein früherer DDR-Häftling angehören. Verglichen mit dem Nationalsozialismus befinden wir uns gerade im Jahr 1973, als die gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen erst richtig losging.
Doch anders als beim Nationalsozialismus droht die Geschichte des Kommunismus durch neue Probleme an den Rand gedrängt zu werden: Masseneinwanderung, Islamismus, Euro-Rettung, Klimawandel, eine neue Partei im Bundestag sind nur einige der Themen, die die Öffentlichkeit mehr beschäftigen. Die DDR ist für viele Politiker – auch von CDU/CSU – kein relevantes Thema mehr. Linke und AfD blicken häufig sogar mit Sympathie auf den sozialistischen Law-and-Order-Staat.
Dabei gibt es nicht nur eine Verpflichtung gegenüber den später Geborenen und Zugezogenen, zentrale Erfahrungen aus der Zeit des DDR-Sozialismus weiterzuvermitteln. So wie man seinen Kindern beibringt, dass sie vorsichtig über die Straße gehen, müssen wir sie auch davor bewahren, dass sie einer Idee hinterherlaufen, die in Diktatur und Unterdrückung endet. Gerade junge Menschen sind für Vorstellungen, die das Ende von Armut und Unterdrückung versprechen, empfänglich.
Auch für viele Probleme der Gegenwart ist der Blick in die Geschichte hilfreich: Ist es wirklich besser, wie viele annehmen, wenn der Staat die Wirtschaft kontrolliert? Ist Gerechtigkeit, die meist als Gleichheit aller Bürger verstanden wird, wirklich ein erstrebenswertes Ziel? Wollen wir tatsächlich ein Rechtssystem, das Straftaten nach ihrer politischen Motivation bewertet, wie es unter SPD-Justizminister Heiko Maas Konsens zu werden drohte? Da wir politische Ideen nicht im Laboratorium ausprobieren können, bleibt uns nur die Analyse der Vergangenheit, um Irrwege und Erfolge zu erkennen.
Eine besondere Rolle spielen dabei Orte, wo die Vergangenheit noch unmittelbar spürbar wird. Ein solcher Ort ist zum Beispiel die Gedenkstätte im ehemaligen zentralen Untersuchungsgefängnis des DDR-Staatssicherheitsdienstes in Berlin-Hohenschönhausen. Seit 1994 informiert sie über das Regime der SED. Jedes Jahr kommen über 450.000 Besuchern, gut die Hälfte davon Jugendliche. In Führungen und Seminaren erfahren sie oft zum ersten Mal in ihrem Leben, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben.
Seit einiger Zeit führt die Gedenkstätte auch Seminare zum aktuellen Linksextremismus durch. Junge Leute beschäftigen sich dort mit den Vorstellungen jener, die trotz der DDR-Erfahrung meinen, mit der Beseitigung von Kapitalismus und Parlamentarismus die Probleme der Menschheit lösen zu können. Das Bildungsprogramm wurde 2011 unter Familienministerin Kristina Schröder gestartet und 2017 weiter ausgebaut. Inzwischen haben weit über 20.000 Jugendliche an knapp 1.500 Seminaren teilgenommen.
Bei der Aufklärung über linken Extremismus der Gegenwart steht die Stasiopfer-Gedenkstätte allerdings so gut wie allein. An den Schulen ist er ebenso wenig ein Thema wie an den zahlreichen Erinnerungsorten zur SED-Diktatur. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung führt so gut wie keine Aufklärungsarbeit durch, höchstens Tagungen, auf denen diskutiert wird, „ob Linksextremismus eine sinnvolle Analysekategorie oder eher ein Kampfbegriff gegen abweichende Meinungen ist“. Ohne geistiges Rüstzeug rutschen deshalb viele junge Menschen in linksradikale Kreise ab, die ihnen eine Mischung aus alternativer Jugendkultur und simplen Erklärungsmustern bieten.
Die frühere schwarz-gelbe Bundesregierung hatte deshalb 2009 in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass sie Kinder und Jugendliche „in ihrem Engagement (…) gegen Rechts- und Linksextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus motivieren und unterstützen“ will. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD fehlte 2013 plötzlich der Linksextremismus. Der feine, aber bedeutende Unterschied schlug sich auch in den Förderprogrammen des Familienministeriums nieder.
Versteht man Vergangenheitsaufarbeitung als Zukunftskapital, dann ist die Auseinandersetzung mit extremistischen Ideen eine wichtige Aufgabe der Gegenwart. Spätestens seit den Straßenschlachten beim G20-Gipfel im Juli, als 8000 gewaltbereite Linksextremisten in Hamburg eine Spur der Verwüstung hinterließen, ist deutlich geworden, dass sich diese Auseinandersetzung nicht auf den Nationalsozialismus und neo-nazistisches Gedankengut beschränken kann. Auch der linke Extremismus mit seinen historischen und aktuellen Spielarten muss thematisiert werden. Im Unterschied zum Rechtsextremismus kann er sich sogar auf stärkere öffentliche Zustimmung stützen, weil entsprechende Politikvorstellungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein auf Sympathien stoßen.
Aufgabe der neuen Bundesregierung sollte es deshalb sein, ein Signal zu setzen und mit Aufklärungsprogrammen den Extremismus jeglicher Couleur entschieden zu bekämpfen. Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen könnte dabei zum Kompetenzzentrum gegen Linksextremismus ausgebaut werden, wo nicht nur Aufklärung und Prävention betrieben, sondern auch Forschungsarbeit geleistet wird, die es in Deutschland bislang praktisch nicht gibt. Auch ein Zeitzeugenprogramm mit Opfern linksextremistischer Gewalt in Anknüpfung an die erfolgreichen Programme zum Nationalsozialismus und zur DDR könnte dort entwickelt werden. Die Erinnerung an das SED-Regime würde auf diese Weise einen neuen, zukunftsorientierten Sinn bekommen.
Dr. Hubertus Knabe (1959) ist Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Von 1992 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur DDR, unter anderem „17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand“ (2003), „Die Täter sind unter uns“ (2007) und „Honeckers Erben“ (2009).