Susanna Schmidt plädiert für einen christlich-demokatischen Verantwortungsbegriff, der die eigenen Grenzen kennt und die unendlichen Möglichkeiten Gottes im Endlichen nicht unterschätzt.
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Susanna Schmidt
Eliten und politische Verantwortung
Wer sich in jungen Jahren selbst dazu zählt, wird ihr nicht angehören. Wer das Phänomen leugnet, hat vermutlich etwas zu verschleiern. Und wer meint, den Begriff ganz unproblematisch im Munde führen zu können, kennt die Geschichte nicht. Die Rede ist von Eliten, einem Begriff, der über Jahrzehnte in der Bundesrepublik verpönt war. Dabei darf es zu den sehnlichsten Wünschen von Menschen gezählt werden, auserwählt zu sein, was das Wort ja eigentlich bedeutet.
Selten habe ich etwas Bewegenderes erlebt als die Aufnahmezeremonie der ersten Stipendiatinnen und Stipendiaten des muslimischen Begabtenförderwerkes Avicenna. Denn es war spürbar, mit welchem Stolz und welcher Ehrfurcht diese jungen Frauen und Männer ihr Begabtenstipendium entgegen nahmen. Sie wussten: Es war ein Zeichen, nicht nur an sie, sondern an die muslimische Community, dass man in ihr die Potenziale künftiger Eliten unseres demokratisch verfassten Gemeinwesens sieht.
Und ein Weiteres hat die Gründung dieses Begabtenförderwerkes gezeigt: dass der Begriff der Eliten in der Bundesrepublik mit Leistung verbunden wird und nicht der zu den Eliten zählt, der eine bestimmte Herkunft oder besonders viel Geld vorzuweisen hat. Natürlich erhöhen eine besondere Herkunft und Geld die beruflichen Erfolgsaussichten (und diese Lücke in der Bildungsgerechtigkeit darf nicht verschwiegen werden), doch sie sind, anders als in aristokratischen oder oligarchischen Gesellschaften, kein Rekrutierungsprinzip. Hier spätestens wird so mancher Zweifel äußern, da in einzelnen Teilbereichen der Gesellschaft eben auch weitere Kriterien eine Rolle spielen, zum Beispiel der Proporz zwischen Männern und Frauen, der regionalen Herkunft oder Konfession oder auch die Loyalität zu denjenigen, die die Auswahlentscheidung treffen.
Egal, ob man den Begriff verwenden will und wie man die Auswahlkriterien einschätzt: dass die Menschen an herausgehobener gesellschaftlicher Position eine besondere Verantwortung für das Gemeinwohl haben, wird kaum jemand bestreiten. Umso mehr fällt es ins Gewicht, wenn wir erleben, dass junge Menschen, die das Privileg eines Studiums haben, sich immer weniger für Politik interessieren, wie es der letzte Studierendensurvey zu Tage gebracht hat1. Oder wenn Intellektuelle, wie vor der letzten Bundestagswahl geschehen, die vollkommene Profillosigkeit politischer Parteien beklagen und deswegen die Wahl – mit Ankündigung – boykottieren wollten2.
Was aber bedeutet Verantwortung für das Gemeinwesen? Ich will mit Max Webers berühmter Definition in „Politik als Beruf“ antworten: „Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“3. Dabei ist mit Leidenschaft hier die „Hingabe an eine ‚Sache‘“ gemeint. „Denn mit der bloßen, als noch so echt empfundenen Leidenschaft ist es freilich nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht als Dienst an einer ‚Sache‘ auch die Verantwortlichkeit gegenüber eben dieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht. Und dazu bedarf es […] des Augenmaßes, der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen: also der Distanz zu den Dingen und Menschen.“
Der Politiker muss seinen Grundsätzen treu bleiben und dennoch die möglichen Folgen seines Handelns vor jeder Entscheidung bedenken, er muss sich an der Gesinnungs- wie an der Verantwortungsethik orientieren. Wer immer Verantwortung für das Gemeinwesen übernimmt, nicht nur in der Politik, sondern auch in Wirtschaft, Religion, Kultur, Medien oder Wissenschaft, braucht die hier geschilderten Haltungen: Leidenschaft und Distanz, Gesinnung und Gewahren der Folgen. Letztlich sollte dies für jeden Staatsbürger gelten…
Aus der Sicht eines christlich-demokratischen Verantwortungsbegriffs kommt aber noch ein Weiteres hinzu: Die jüdisch-christliche Tradition hat immer Kritik an den verantwortlichen handelnden Personen geübt. Das zieht sich von den Propheten bis hin ins Neue Testament, in dem Maria im ersten Kapitel des Lukas-Evangeliums verkündet: „Die Mächtigen stürzt er vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1,52f.) Der christliche Glaube, der sich vom Kreuz her versteht, kann sich niemals an einen Status quo verkaufen, jede Ignoranz gegenüber der basileia tou theou, der schon angebrochenen „Gottesherrschaft“ wird in die Irre führen. Vielmehr orientiert er hier strikt auf Endlichkeit. Zu welcher Haltung kann und sollte dieser Glaube diejenigen führen, die an herausgehobener Stelle Verantwortung übernehmen und sich an ihn gebunden fühlen? Was kann das konkret heißen?
Nehmen wir die derzeit so umstrittene Flüchtlingsfrage. Der fiktive Rollentausch gemäß der Bibel und im Übrigen auch gemäß dem kategorischen Imperativ – was wollte ich als Flüchtling, dass mir getan wird? – wird zunächst eines freisetzen: Humanität, über staatliche Stellen und freiwillige Helfer in die Tat umgesetzt. Doch die Endlichkeit hat eine zweite Dimension. Wir dürfen nicht annehmen, dass Gott jetzt alles richten wird, vielmehr ist es uns aufgegeben, eine Form eines – vorläufigen – Zusammenlebens selbst zu finden. Das Reich Gottes hat begonnen, aber die Jesaja-Träume sind noch nicht Realität. Wir sollten nicht so tun, als ob wir sie herstellen könnten. Vielmehr ist uns aufgegeben, im Wissen um die Endlichkeit von Macht und Wohlstand und um die Grenzen unserer Fähigkeiten, auch unserer Integrationskraft, eine gute Ordnung als Provisorium zu ermöglichen. Die eigenen Grenzen zu kennen und die unendlichen Möglichkeiten Gottes im Endlichen nicht zu unterschätzen, ist kein Widerspruch.
Susanna Schmidt (1963) leitet die Hauptabteilung Begabtenförderung und Kultur der Konrad-Adenauer-Stiftung, zuvor war sie Leiterin der Strategieabteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Von 1999 bis 2005 war sie die Direktorin der Katholischen Akademie in Berlin.
1 Vgl. Michael Ramm/Frank Multrus/Tino Bargel/Monika Schmidt: Studiensituation und studentische Orientierungen, hrsg. Vom Bundesministerium für Bildung und Forschung 2014.
2 Vgl. Harald Welzer: Warum ich nicht mehr wählen gehe, in: Der Spiegel 22/2013 und zur weiteren Debatte z.B. Die Welt, 5.8.2013 oder Der Spiegel 38/2013.
3 Max Weber: Politik als Beruf. In: Max Weber: Schriften 1894-1922. Ausgewählt von Dirk Kaesler, Stuttgart 2002, S. 555, das folgende Zitat S. 537.