Norbert Lammert beschreibt, warum auch die Moderne auf Religion angewiesen ist.
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Norbert Lammert
Religion und säkulare Gesellschaft
Dass wir heute in Zeiten und in Gesellschaften leben, die wir als säkular bezeichnen, ist regelmäßig mit dem weit verbreiteten Missverständnis verbunden, der Preis der Moderne sei der Verzicht auf Religion – was schon deswegen nachweislich falsch ist, weil es statistisch gesehen noch nie so viele Menschen auf diesem Globus gegeben hat, die sich einer Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen. Dabei ist zugegebenermaßen der geringste Bekenntnis-Zuwachs in Europa zu verzeichnen, was das Missverständnis beinahe schon erklärt.
Auch jenseits der Zahlen, die für sich sprechen, ist in den Gesellschaften der fundamentale Zusammenhang zwischen ihrem Selbstverständnis, ihrer inneren Stabilität und ihren grundlegenden Orientierungen und Überzeugungen, die es gibt oder eben nicht gibt, schwerlich zu übersehen und kaum zu bestreiten. Jürgen Habermas, der sich selbst als einen religiös unmusikalischen Menschen bezeichnet, hat dazu in einer seiner zahlreichen Schriften und Reden zur Verfassung moderner Gesellschaften festgehalten: „Religiöse Glaubensüberlieferungen und religiöse Glaubensgemeinschaften haben seit der Zeitenwende von 1989/90 eine neue und bis dahin nicht erwartete politische Bedeutung gewonnen“.
Wieviel Religion erträgt eine moderne aufgeklärte Gesellschaft? Und wieviel Religion braucht ein moderner demokratischer Staat? Beide Fragen lassen sich nach meiner Überzeugung nicht unabhängig voneinander beantworten.
Ich will mit dem Hinweis beginnen, dass Politik und Religion zwei offenkundig unterschiedliche, aber jeweils bedeutende, formell oder informell mächtige, rechtlich oder faktisch bindende Gestaltungsansprüche gegenüber unterschiedlichen Gesellschaften sind. Schon deswegen können Politik und Religion einander nicht gleichgültig sein, und sie sind gewiss nicht identisch. Wenn man nach dem jeweiligen Kern von Religion und Politik fragt, könnte die Antwort lauten: Religionen handeln von Wahrheiten, Politik von Interessen. Interessen sind nicht wahrheitsfähig und Wahrheiten sind nicht mehrheitsfähig. Das allein stellt sicher, dass sich Politik und Religion mit ihren jeweiligen Gestaltungsansprüchen stets in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis befinden.
Es wäre spannend auch der Frage nachzugehen, ob nicht auch in Religionen, jedenfalls in Kirchen, was ja nicht ganz dasselbe ist, Mehrheitsabstimmungen über relevante Sachverhalte vorstellbar sind. Hier mag der Hinweis genügen, dass ich den Umstand, dass die katholische Kirche ihr Oberhaupt regelmäßig durch Wahlen ermittelt, für eine der wichtigsten Stützen meines Glaubens an die Institution Kirche halte, weshalb sich mir übrigens bis heute nicht erschließt, warum das für die Benennung von Bischöfen nicht auch möglich sein soll.
Hinzuweisen ist noch auf ein anderes weit verbreitetes Missverständnis in modernen demokratischen Gesellschaften hin: Jeweilige Mehrheiten nehmen das bloße Vorhandensein der Mehrheit in einer Abstimmungsfrage bereits für den Nachweis der Richtigkeit ihrer Meinung – was schon rein logisch nicht nachvollziehbar ist, denn hätte man die Richtigkeit dieser Meinung bereits nachweisen können, hätte die Abstimmung darüber erst gar nicht stattfinden müssen. Wer sich an Abstimmungen beteiligt, räumt ein, dass er nicht über Wahrheiten verfügt, sondern über Anliegen, Auffassungen und Interessen, und der Fortschritt der Zivilisation besteht ganz sicher darin, dass wir die Legitimität dieser unterschiedlichen Anliegen, Auffassungen und Interessen als selbstverständliche Grundlage unseres Zusammenlebens akzeptieren.
Oder mit Blick auf die Reformationsgeschichte gesprochen: Erst die Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortbarkeit der Wahrheitsfrage hat im Gang der Geschichte die moderne Demokratie möglich gemacht. Wüssten wir, was wahr ist, bräuchten wir die Demokratie mit ihren Abstimmungsverfahren nicht. Wir bräuchten dann allerdings verlässliche Verwalter ewiger Wahrheiten, die wir glücklicher oder unglücklicher Weise nicht haben.
Die Vorstellung, moderne Gesellschaften bräuchten Religionen nicht, ist, wie zu Beginn erwähnt, empirisch widerlegt. Jedenfalls brauchen die meisten Menschen offenkundig ein System von Orientierungen, das in einer immer komplizierteren Welt Halt ermöglicht. Dass im Übrigen Gesellschaften nicht durch Märkte zusammengehalten werden und schon gar nicht durch Geld, spricht sich inzwischen doch herum, und bei genauem Hinsehen führt auch kein Weg an der Einsicht vorbei, dass auch Politik eine Gesellschaft nicht zusammenhält, schon gar nicht alleine.
Denn das Regelsystem der Politik entfaltet seine Plausibilität erst aus Kontexten, die ihrerseits nicht politischen, sondern kulturellen Ursprungs sind. Das, was eine Gesellschaft im Inneren zusammenhält, ist Kultur – Kultur nicht im engeren Sinne von Kunst und Kultur verstanden, sondern Kultur verstanden als die Summe der Erfahrungen, die eine Gesellschaft mit sich selbst gemacht hat: in einer gemeinsamen Sprache, mit gemeinsamer Geschichte, gemeinsamen Traditionen, gemeinsamen Überzeugungen, die von einer Generation zur nächsten übermittelt werden und von deren Geltung man überzeugt ist.
Wenn es ein solches Mindestmaß an Gemeinsamkeiten in einer Gesellschaft nicht mehr gibt, hält sie auch nichts mehr zusammen. Religion ist dabei die mit Abstand wichtigste einzelne Agentur zur Vermittlung solcher Orientierungen und Überzeugungen. Es gibt in der Menschheitsgeschichte dafür keine vergleichbare und auch nur annähernd wirkmächtigere Einflussgröße.
Dass sich in der Geschichte erst vergleichsweise spät ein Verständnis der notwendigen Trennung von Politik und Religion, von Staat und Kirche entwickelt hat, gehört zu der komplizierten Einsicht, die zum einen immer wieder das Missverständnis erzeugt, Politik habe mit Religion nichts zu tun und zum anderen den Umstand verkennt, dass es genau diese Trennung von Religion und Politik ohne die religiös vermittelte Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gar nicht geben würde.
Norbert Lammert (1948) gehörte 1980 – 2017 dem Deutschen Bundestag an und war 2005 – 2017 dessen Präsident. Von 1989 – 1998 war er Parlamentarischer Staatssekretär in den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr und danach bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 2002 wurde er Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Seit Anfang 2018 ist er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, deren zuvor seit 2001 war. Norbert Lammert ist Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de