Rüttgers zur Parteiendemokratie

Fast ein Jahr nach der Bundestagswahl 2013 hat jüngst Jürgen Rüttgers jüngst  auf Regierungsforschung.de eine ausführliche Analyse der Wahl und der folgenden Regierungsbildung veröffentlicht und sieht die Parteiendemokratie vor einer Neupositionierung.

Den vollständigen Beitrag unter dem Titel „Die Botschaft der Wähler an die politische Wissenschaft – Anmerkungen zur Bundestagswahl 2013“ finden Sie auf regierungsforschung.de hier und können ihn hier ausdrucken.

Gerade weil Jürgen Rüttgers die Rolle der Parteien in unserer Demokratie für wesentlich hält, sieht er sie vor neuen Herausforderungen. Seine Grundthese lautet: „Unsere Verfassung, die Menschen- und Bürgerrechte und damit unsere Demokratie beruhen auf Werten. Sie braucht als Fundament ein System der Vielfalt, der Überzeugungen, der Meinungen, der Interessen, des Respekts und der Toleranz. Und diese Grundhaltung zu leben, ist Aufgabe unserer Parteien.“ Auf dieser Grundlage basiert der folgende Abschnitt in seiner Analyse.

Jürgen Rüttgers

Parteiendemokratie vor einer Neupositionierung

(aus:  Jürgen Rüttgers, Die Botschaft der Wähler an die politische Wissenschaft – Anmerkungen zur Bundestagswahl 2013, regierungsforscgung.de  Juni 2014)

Der Koalitionsvertrag ist mit 185 Seiten sehr lang geworden. Eine Konzentration auf zentrale Themenfelder ist nicht erfolgt. Mit der großen Koalition, der ‚GroKo‘ wie sie öffentlich genannt wird, verbindet sich kein wegweisendes Projekt. Man hat sogar den Eindruck, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien vor einer programmatischen Klärungsphase stehen. Nachdem die SPD-Basis entgegen allen Vorwahlvermutungen eine große Koalition wegen der schlechten Wahlergebnisse ablehnte, änderte sich dies im Laufe der öffentlichen Debatte. Die sogenannte Basis – angeblich öffentlich vertreten durch die NRW-SPD und ihre Vorsitzende – stimmte in einer Mitgliederbefragung mit einer großen Mehrheit von rund 76 % der Koalitionsvereinbarung zu. Eckhard Jesse bezeichnet dieses Konvent-Verfahren als demokratietheoretisch höchst problematisch und nennt es „eine Scheinpartizipation“.14 Die SPD-Führung erweckte deshalb den Eindruck, sie habe durch hartes Verhandeln eine Koalition ‚auf Augenhöhe‘ erreicht. Durch die Aufnahme mehrerer Kernpunkte ihres Wahlprogramms in die Koalitionsvereinbarung und eine überproportional starke Zahl an Ministerposten sei man der Sieger der Verhandlungen.

CDU und CSU begnügten sich dagegen mit der Rolle der Verhinderer. Man habe die schlimmsten SPD-Forderungen wie Steuererhöhungen, übermäßige Ausgaben und noch mehr Bürokratie verhindert. Um der Stabilität der Regierung willen, habe man den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn akzeptiert. Die Union protestierte noch nicht einmal, als die SPD auf ihrem Leipziger Parteitag beschloss, zukünftig auch die Linkspartei als koalitionsfähig zu betrachten. Dieser Beschluss sollte den linken Flügel der SPD beruhigen. Nun ist Voraussetzung für den Erfolg der Zusammenarbeit in jeder Koalition immer, dass die Partner ‚auf Augenhöhe miteinander umgehen‘ und alle den gemeinsamen Erfolg der Koalition wollen. Deshalb liegt in diesem Beschluss der SPD ein Spaltpilz begraben, der in schwierigen Lagen das Scheitern vor der nächsten Bundestagswahl möglich machen soll.

Wann bei der SPD die Ernüchterung einsetzt, bleibt ebenfalls abzuwarten. Die angeblich erkämpfte ‚Augenhöhe‘ ist jedenfalls in jeder deutschen Koalition unabhängig vom Wahlergebnis des kleineren Partners Koalitionsvoraussetzung. Inhaltliche und personelle Beschlüsse, ja alle Anträge und Gesetzesentwürfe im Bundestag, sind nur möglich, wenn alle Koalitionsparteien zustimmen. Dies gilt jetzt für die SPD und galt in den Legislaturperioden vorher für die FDP und die Grünen. Auch die inhaltlichen Positionen werden aus Sicht der SPD-Anhänger an Strahlkraft verlieren. Der gesetzliche Mindestlohn wird nicht uneingeschränkt gelten. Es wird Ausnahmen geben, wie schon im Koalitionsvertrag zu lesen ist. Die Rente mit 63 ist nur eine Übergangsregelung, die wieder außer Kraft tritt, was ihre negative Wirkung angesichts der Probleme des demografischen Wandels nicht schmälert.

Die SPD wird durch den Eintritt in die Koalition – wie die FDP 2009 – die Teile ihrer aktuellen Wählerschaft verlieren, die ihr den Eintritt in die große Koalition übel nehmen. Ihre Grundprobleme sind weder durch den Wahlkampf gelöst (zweitschlechtestes Wahlergebnis, Milieuverlust, Koalitionsoptionen), noch durch den Koalitionsvertrag. Die FAZ kommentierte die hochgelobte Nachwahl-Strategie des SPD-Vorsitzenden Gabriel wie folgt: „Die Reise, auf die sich die SPD seit dem Kampf um die Agenda gemacht hat, gleicht einer Odyssee: Gabriel will die FDP überflüssig machen, die Grünen weiter hofieren, sich für die Linkspartei öffnen, aber mit der CDU und CSU koalieren“.

Es bleibt abzuwarten, ob das jeweilige Kalkül der Koalitionspartner aufgeht. Zwar konnte die Bundeskanzlerin durch ihre starke Position in der eigenen Partei darauf verzichten, klare Positionen im Koalitionsvertrag festzuschreiben. Das inhaltliche Profil der Union in der Regierung ist als Folge undeutlich. Das schließt nicht aus, dass noch wichtige Weichenstellungen vorgenommen werden. Alle als „historisch“ in der 17. Legislaturperiode (2009 – 2013) getroffenen Entscheidungen fanden sich auch nicht in der Koalitionsvereinbarung. Schon in der ersten großen Koalition (2005 – 2009) wirkte die CDU in ihrer Regierungstätigkeit „normativ entkernt“. (Karl-Rudolf Korte / Niko Switek) Ob es aber möglich ist, vier Jahre ohne eigene Kernkompetenz zu regieren und nur pragmatisch zu reagieren und jede Position in der Koalition im Einzelnen durchsetzen zu müssen, bleibt abzuwarten.

Auch die kleinen Parteien stehen vor einer inhaltlichen Neupositionierung. Die Grünen werden, wenn sie wieder in einer Koalition regierungsfähig werden wollen, die selbstgewählte Links-Verortung der Partei aufgeben müssen. Diese wird zwar vor allem von ihrer Funktionärsschicht, nicht aber von der gesamten Parteibasis getragen. Eine Öffnung ins bürgerliche Spektrum wird jedoch nur nach einem inhaltlichen Diskussionsprozess möglich sein. Überraschende Richtungswechsel sind für kleine Parteien, wie das Beispiel der FDP 1969 und 1982 zeigt, gefährlich, weil der Verlust von Teilen der Anhängerschaft droht.17Die FDP wird, will sie bei der nächsten Wahl wieder in den Bundestag zurückkehren, neu definieren müssen, was Liberalismus in Zeiten der Globalisierung und des internationalen Finanzkapitalismus bedeutet. Die Bezugnahme auf die Freiburger Beschlüsse aus dem Jahr 1971, um damit auch für Rot/Grün koalitionsfähig zu werden, wird nicht ausreichen.

Zur Analyse der Wirklichkeit unseres Parteiensystems wird es deshalb unterschiedlicher Ansätze bedürfen. Die Parteien wird man im Verhältnis zueinander nur mit verschiedenen Erklärungsmustern beschreiben können. Die Parteientheorien werden nur die Wirklichkeit beschreiben, wenn man die Parteien als Institutionen versteht, die auf die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten reagieren, um demokratische Mehrheiten zu erobern.

Die Folge eines solchen Verhaltens ist nicht eine nur pragmatische Politik, ein ‚muddling through‘, ein ‚Durchwursteln‘. Die Wähler wollen wissen, wofür die Parteien stehen. Dies gilt besonders für Stammwähler. Viele empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Wähler, auch solche ohne großes politisches Interesse, eine recht präzise Vorstellung von den Positionierungen der Parteien im politischen Spektrum haben. Diese wollen sie wiedererkennen.

Stabile Mehrheiten bei Wahlen sind zudem nur zu erringen, wenn es gelingt, gleichzeitig eine politische, eine wirtschaftliche sowie eine kulturelle Mehrheit zu gewinnen. Das geht nur, wenn die Wähler Politikern vertrauen. Vertrauen ist nach der klassischen Definition von Niklas Luhmann ein „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“. Demjenigen, dem man vertraut, nimmt man auch Zumutungen ab. Er muss als Gegenleistung dafür aber sagen, wofür er steht. Floskeln, Schweigen, Reden ohne Aussage schaffen kein Vertrauen. Politiker müssen Mut zur Klarheit und zum Konflikt, Mut zur Kante haben. Und sie müssen das Gesagte und Geglaubte leben. Nur wer diesen Mut hat, bekommt Vertrauen entgegengebracht. Daran fehlt es weitgehend.

Die Parteien sind heute Organisationen, die wie andere gesellschaftliche Institutionen auch durch Vielfalt geprägt sind. Sie sind keine monolithischen Blöcke, unbeweglich, klar definiert, nur auf ein Ziel ausgerichtet, nur eine Schicht der Bevölkerung umfassend. Sie sind Volksparteien, also alle Schichten des Volkes umfassend. Sie sind Klientelparteien, also nur die Interessen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe vertretend. Sie sind Ein-Themenpartei, also auf die Durchsetzung eines inhaltlichen Anliegens ausgerichtet. Sie sind radikal, weil sie eine Veränderung des politischen Systems außerhalb des Verfassungsrahmens der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland versuchen. Sie versuchen eine verfassungsfeindliche Ideologie durchzusetzen. Oder sie sind eine populistische Partei, die den Unmut eines Teils der Bevölkerung artikulieren und instrumentalisieren will, um in Parlamente und Räte gewählt zu werden. Ihnen ist bei allen Unterschieden gemeinsam, dass sie eine definierte Strategie zur Stimmenmaximierung haben. Das ist an sich nichts Verwerfliches, weil es zum Wesen einer Partei gehört, für Mehrheiten demokratisch zu kämpfen.

Um eine Mehrheit zur Regierungsbildung zu erlangen oder als Opposition bei den nächsten Wahlen erfolgreich zu sein, braucht eine Partei aber auch ein Parteiprogramm, aus dem der Charakter der Partei innerhalb des Parteienspektrums abgeleitet werden kann. Wer Volkspartei ist, will regieren. Wer Klientelpartei ist, will ein Interesse durchsetzen. Wer eine Ein-Thema-Partei ist, will ein bestimmtes politisches Ziel verwirklichen. Populisten nehmen Unmut in der Gesellschaft auf, um Macht zu erlangen. Radikale Parteien wollen das politische System sprengen.

Für alle diese unterschiedlichen Strategien zur Stimmenerlangung gilt: Ohne Inhalt geht es nicht! Diese Aufgabe folgt aus Art. 21 Grundgesetz, wonach Aufgabe der Parteien ist, an der politischen Willensbildung des Volkes teilzuhaben. Aus diesem Satz hat das Bundesverfassungsgericht abgeleitet, dass die Parteien (wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert)  „verfassungsrechtlich notwendige Institutionen“ sind. Damit wurde die Bundesrepublik Deutschland von Verfassungs wegen ein „Parteienstaat“, so wie sie eine „freiheitliche Demokratie, sozialer Bundesstaat und gewaltenteilender Verfassungsstaat“ ist (Wilhelm Hennis). Im Laufe der letzten 20 Jahre sind die Parteien zwar nicht allmächtig geworden. Aber inzwischen sind sie übermächtig und überfordert. Sie sind kein Staatsorgan, sondern auch Teil der Bürgergesellschaft.  Den Parteien obliegt es deshalb, eigene politische Ziele zu entwickeln, Parteiprogramme aufzustellen, öffentliche Diskussionen zu initiieren, Probleme zu erkennen, zu beschreiben und Lösungen öffentlich zur Diskussion zu stellen. Zudem haben sie die Verpflichtung, die Beteiligung der Bürger an den politischen Dingen sicherzustellen.

Aus der Erfüllung dieser Aufgabe, die von innerparteilichen und öffentlichen Debatten begleitet wird, entwickelt sich eine Programmatik, die eine Partei von anderen unterscheidet. In Grundsatzprogrammen aber auch in Wahlprogrammen oder in Leitanträgen auf Parteitagen nehmen die Parteien solche Standortbestimmungen vor. Dabei dienen vor allen die Grundsatzprogramme der weltanschaulichen oder ideologischen Vergewisserung und der Bestimmung des Standortes der jeweiligen Partei. Eine solche Standortbestimmung erfordert eine Richtungsentscheidung, die ohne ein Bekenntnis zu den der politischen Arbeit zugrundeliegenden politischen und geistigen Werten nicht möglich ist.

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