Norbert Lammert MdB plädiert für den Dialog zwischen religiösen Menschen ohne Dramatisierung und Banalisierung.
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Norbert Lammert
Religion und Dialog
I.
Der Hinweis auf Befindlichkeiten moderner Gesellschaften ist immer wieder mit der Vermutung verbunden, der Preis der Modernität sei der Verlust an Religiosität, mindestens aber die freiwillige, mutwillige, leichtfertige, unauffällige Aufgabe religiöser Orientierung. Tatsächlich ist Religion keineswegs nur ein großes Thema dieses Jahrhunderts. Religion ist ein großes Thema der Menschheit. Weder das soziale Gefüge noch das Zusammenleben von Menschen noch die politische Verfassung einer Gesellschaft sind ohne religiöse Bezüge zu begreifen, Kulturen schon gar nicht. Die menschliche Zivilisation ist durch Religionen geprägt. Deshalb ist friedliches Zusammenleben überhaupt nur möglich auf der Basis von Verständnis, Verständigung und Toleranz zwischen den Religionen.
Es gibt deshalb ein Interesse am Dialog, selbst wenn die Religionen selbst dieses Interesse nicht hätten – und sie hatten es auch nicht immer. Fast ein Drittel der Menschheit sind Christen oder Muslime. Beide Religionen sind mit dem Judentum von ihren eigenen Quellen her stärker verbunden, als im Selbstverständnis der Gläubigen – wie in der Selbstdarstellung ihrer Religionen oft erkennbar ist. Die Migrationen der jüngeren Vergangenheit, die in der überschaubaren Zukunft wohl eher zunehmen als abnehmen werden, und die damit verbundene Begegnung, gelegentlich auch Konfrontation von Religionen und Kulturen führt international wie national zu neuen Herausforderungen.
Wer einen Dialog mit und zwischen den Weltreligionen gewissenhaft betreiben will, muss wissen, worauf er sich einlässt. Dieser Dialog muss mehr sein als ein multikultureller Smalltalk, muss mehr sein auch als die Freude an Vielfalt – oft verbunden mit dem fröhlichen Missverständnis: alles ist möglich, alles ist gleich, alles ist gleich gültig und folglich gleichgültig. Der Blick auf das Gemeinsame darf die Sicht auf Unterschiede nicht trüben. Dialog bedeutet nicht Bagatellisierung der Wahrheitsfrage.
Im Übrigen muss man von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass es gar keinen Dialog zwischen Religionen gibt. Dialoge gibt es nur zwischen Menschen, sie müssen zum Dialog bereit und in der Lage sein. Sie müssen die Eigenständigkeit des jeweils Anderen wahren und der doppelten Versuchung zur Dramatisierung wie zur Banalisierung widerstehen.
II.
Die gelegentlich merkwürdige Verbindung von Mutlosigkeit und Ängstlichkeit auf der einen Seite und dröhnendem Selbstbewusstsein auf der anderen Seite ist bei genauem Hinsehen nicht nur im christlich-jüdisch-islamischen Trialog, sondern auch im Gespräch der christlichen Konfessionen untereinander gelegentlich zu beobachten.
In diesen Wochen erinnern wir an die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren, und wir bereiten uns auf den 500. Jahrestag der Reformation vor. Beide Ereignisse betreffen nicht nur jeweils eine Konfession, sondern sind eine Herausforderung an alle und eine Angelegenheit insbesondere, aber nicht nur der Kirchen.
Ich gehöre zu den vielen engagierten Katholiken und Protestanten, die keinen Zweifel daran haben, dass die Reformation mit Blick auf die damaligen Verhältnisse als Versuch der Erneuerung der Kirche notwendig und überfällig war. Dass sie aber keineswegs zwangsläufig zur Kirchenspaltung hätte führen müssen, zu der es ganz wesentlich auch deshalb gekommen ist, weil auch damals religiöse Auseinandersetzungen für politische Zwecke instrumentalisiert worden sind. Mindestens diese Begründung ist offenkundig entfallen. Die Frage ist, ob es andere ernsthafte Begründungen gibt, die 500 Jahre nach der damaligen Auseinandersetzung die Aufrechterhaltung der Trennung rechtfertigen oder gar notwendig machen.
Offensichtlich ist, dass katholische und evangelische Christen viel mehr verbindet als unterscheidet. Unbestritten ist, dass es unterschiedliche Positionen im Verständnis von Amt, von Abendmahl, von Kirchen gibt. Wesentlich ist die Frage, ob diese Unterschiede die Aufrechterhaltung der Trennung rechtfertigen. Für mich ist die Kirchenspaltung der große Anachronismus unserer Zeit. Sie ist ein Zustand, dass buchstäblich aus der Zeit gefallen ist: eine sich selbst verselbständigende Entwicklung, die ihre Anlässe und Ursachen längst hinter sich gelassen hat, aber mit scheinbar heiligem Ernst an den Strukturen festhält, die Folgen der damaligen Ursachen sind.
„Die Sorge um die Wiederherstellung der Einheit ist Sache der ganzen Kirche, sowohl der Gläubigen wie auch der Hirten, und geht jeden an, je nach seiner Fähigkeit, sowohl in seinem täglichen christlichen Leben wie auch bei theologischen und historischen Untersuchungen.“ So die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils „unitatis redintegratio“. Ich persönlich bin fest überzeugt, die Wiederherstellung der Einheit wird kommen. Ich fürchte allerdings, dass sie später kommt als es möglich wäre, weil wir alle miteinander leider auch in diesem Zusammenhang die Begabung entwickelt haben, uns an Zweit- und Drittrangigkeiten festzuhalten und dabei das Wesentliche aus dem Auge zu verlieren.
Es gibt viele Indizien dafür, dass sich viele engagierte Katholiken mit dem Zustand der Kirche, die sie 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erleben, nicht mehr in gleicher Weise identifizieren können wie mit der Kirche des Aufbruchs, die sie noch immer in lebhafter und prägender Erinnerung haben. Da ist der Eindruck der Stagnation ausgeprägter als der des Aufbruchs. Da entsteht immer wieder, vielleicht zu Unrecht, der Eindruck vom Vorrang theologischer Dogmatik vor der Seelsorge, von der wieder zunehmenden Dominanz der Amtskirche gegenüber dem Laienapostolat, der römischen Kurie gegenüber den Ortskirchen. Viele registrieren mit Enttäuschung die Eindämmung des Engagements von Laien, insbesondere von Frauen.
Mich beunruhigt der Eindruck, dass es eher so etwas wie eine auf Dauer gesetzte Angststarre gibt als die begründete, selbstbewusste Bereitschaft zum Aufbruch. Martin Luther hat einmal gesagt: „Anfechtung ist die notwendige Kehrseite des Glaubens. Wer nicht angefochten wird, kann auch nicht glauben.“ Und die wunderschöne Kurzfassung dieser gleichen Bemerkung lautet: „Anfechtungen sind Umarmungen Gottes.“ Im Vergleich dazu tritt die Kirche den Gläubigen immer wieder als strenge Aufsicht eines göttlichen Vermächtnisses entgegen. Das ist für mich schon fast eine ausreichende Erklärung dafür, warum immer mehr Menschen wenig Probleme mit ihrem Glauben, aber immer mehr Menschen Probleme mit ihrer Kirche haben.
Natürlich muss die Kirche den Glauben bewahren, aber sie kann ihn nur bewahren, in dem sie ihn immer wieder neu in einer sich verändernden Welt versteht, erläutert und vermittelt. Die Kirche muss sich auf die moderne Welt einlassen, wenn sie ernst genommen werden und ihren Auftrag wahrnehmen will. Dazu gehört ganz wesentlich die Bereitschaft und die Fähigkeit, Neues wahrzunehmen und zuzulassen, was bislang noch nicht zur Entfaltung kommen konnte.
Es ist die Aufgabe der Kirche in der Welt von heute, jedenfalls die Aufgabe der Christen: unbefangen und mutig, offensiv und geduldig im Dialog mit dem Denken der Neuzeit den Glauben leben und ihn in dieser Welt lebendig halten.
Norbert Lammert gehört seit 1980 dem Deutschen Bundestag an und ist seit 2005 dessen Präsident. Von 1989 – 1998 war er Parlamentarischer Staatsekretär in den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr und danach bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 2002 wurde er Vizepräsident des Deutschen Bundestages, seit 2001 ist er stv. Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.