WER VERTRITT DAS VOLK ?

Norbert Lammert warnt davor, Demokratie für selbstverständlich zu halten und hält das repräsentative dem plebiszitären Prinzip für deutlich überlegen.

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Norbert Lammert

Wer vertritt das Volk?

Demokratie zwischen Parlamentarismus und Populismus

Die Frage „Wer vertritt das Volk?“ tritt zwangsläufig sofort auf, sobald Menschen begreifen, dass es nicht nur Fragen gibt, die jeder für sich entscheiden kann, sondern auch Fragen, die offenkundig nicht jeder für sich entscheiden kann.

Welchen Beruf man ergreifen möchte; ob man heiraten will oder nicht, wenn ja, wen; ob man eine Fami­lie gründen möchte, mit wie vielen Kindern; ob man ein Auto braucht, wenn ja, welches, und wie lange und ob man es besser kauft oder least – all das sind Fragen, die prinzipiell jeder für sich entscheiden könnte. Aber schon die Frage, auf welchen Straßen fahren die denn eigentlich, von A nach B und C, wie sind sie ausgebaut, kann man sie kostenlos nutzen oder sind sie gebührenpflichtig, liegt jenseits der indi­viduellen Entscheidungsmöglichkeit.

Dass mit der zunehmenden Entwicklung von Gesellschaften mit dem immer höheren Grad an Arbeitstei­lung, das Ausmaß der Fragen exponentiell zugenommen hat, die nicht mehr individuell entschieden wer­den können, sondern – auf welchen Wege auch immer – anders entschieden werden müssen, ist nicht weiter erläuterungsbedürftig.

Wer vertritt denn dann das Volk? Wie kommen solche Entscheidungen zustande? Wie kann man idealer­weise sicherstellen, dass diejenigen, für die diese Entscheidungen am Ende gelten, möglichst am Zustan­dekommen dieser Entscheidungen indirekt oder direkt selbst beteiligt waren, zumindest hätten sein kön­nen? Dazu gibt es klassischerweise zwei Alternativen, zu denen es jeweils Varianten gibt. Die eine, his­torisch gesehen junge Alternative ist die Wahl von Parlamenten, die andere, mit erheblicher Attraktivität auch und gerade für die heute lebende Generation verbundene Alternative, ist die Volksabstimmung.

Auf den Einfall, in regelmäßigen Abständen Vertreter zu wählen, denen man die Zuständigkeit überlässt und überträgt, einen nicht ausdeklinierten Katalog von entscheidungsvernünftigen Sachverhalten zu be­handeln und rechtsverbindlich zu entscheiden mit dem Anspruch der Geltung für alle, ist die Menschheit vergleichsweise erst spät gekommen.

So sehr wir das für eine Errungenschaft unserer Zivilisation halten, so wenig lässt sich übersehen, dass diese Errungenschaft nun ihrerseits wieder mit Zweifeln konfrontiert ist. Eine, nicht die einzige, aber eine besonders relevante Variante in der Artikulation von Zweifeln an der Tragfähigkeit, an der Moder­nität, an der Zumutbarkeit repräsentativ herbeigeführter Entscheidung erleben wir in Form von populisti­schen Herausforderungen

Es ist kein Zufall, dass Populismus keineswegs eine vorübergehende und vor Jahren in nur einigen wenigen Ländern exklusiv auftretende Erscheinung ist, sondern ein beinahe globa­ler Trend, der mit einer beinahe inneren Folgerichtigkeit in genau den Ländern regelmäßig auftritt, in de­nen er sich unter der Bedingung freier Artikulationsmöglichkeit von von Meinungen am ehes­ten artikulieren kann.

Die wichtigste Einsicht überhaupt, die Grundeinsicht in diesem Zusammenhang ist die, dass der Volks­wille überhaupt nur im Plural vorkommt und im Singular nicht existiert – oder, der Vollständigkeit hal­ber, müsste ich sagen: Nur in der Propaganda kommt er im Singular vor, in der Realität nur im Plural. Man kann das an beliebigen Beispielen durchdeklinieren:

Ob ein Staat seinen Bürgern von ihrem hart verdienten Einkommen Steuern abnehmen soll und, wenn ja, in welcher Höhe, dazu gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen, sicher aber keinen einheitlichen Volkswillen. Ob außer der Besteuerung von Löhnen und Einkommen auch Umsätze besteuert werden sollen, und es außer Umsätzen im Allgemeinen dann auch noch so liebenswürdige Sondereinrichtungen wie Weinsteuer, Sektsteuer, Biersteuer geben soll, dazu gibt es auch profilierte Meinungen, ganz sicher aber keinen einheitlichen Volkswillen.

Ob ein Land Fremde aufnehmen soll, wenn ja, welche, und wie viele, und wie lange, dazu gibt es sehr dezidierte Vorstellungen, aber sicher keinen einheitlichen Volkswillen. Ob man, wenn man welche auf­nimmt, dann auch folgerichtig deren Familienmitglieder aufnehmen muss, wenn ja, wie lange und unter welchen Bedingungen; ob man zwischen Menschen, die deswegen kommen, weil sie verfolgt werden, und anderen, die kommen, obwohl sie nicht verfolgt werden, aber den begründeten Eindruck haben, dass sie dort, wo sie leben, keine Zukunftsperspektive haben, die sie bei uns mit traumwandlerischer Sicher­heit vermuten; ob man zwischen dem einen oder anderen unterscheiden kann und darf, vielleicht sogar muss, darüber kann man streiten, muss man streiten, weil es keinen einheitlichen Volkswillen gibt.

Ob in ein und derselben Gesellschaft verschiedene Religionen gleichzeitig zugelassen werden sollen oder ob es eine Staatsreligion geben sollte oder eine theoretische Variante; ob Religionen nicht besser prinzipiell verboten gehören, auch dazu gibt es nachweislich sehr unterschiedliche Vorstellungen, sicher aber keinen einheitlichen Volkswillen.

Mit anderen Worten: Der Volkswille ist ein künstliches Produkt, weil er als Naturzustand gar nicht vor­kommt. Die historische, wie ich glaube bisher überzeugendste Antwort, die die Menschheit auf die Er­stellung dieses Kunstprodukts gefunden hat, ist die in regelmäßigen freien Wahlen zustande gekommene Bestellung von Parlamenten.

Das hört sich so schlüssig an, dass man sich im Lichte dieser Zusammenhänge doch einigermaßen wun­dern muss, warum der gegenteilige Anspruch so populär ist. Ich glaube, auch dafür gibt es eine Erklä­rung. Je komplizierter die Zusammenhänge werden; je unsicherer Zukunftsperspektiven werden oder je­denfalls erscheinen; je mehr alles mit allem irgendwie zusammenhängt, sich aber beinahe jeder überfor­dert fühlt, all diese Zusammenhänge nachzuvollziehen; und je mehr Menschen den im Übrigen begrün­deten Eindruck haben, dass sie die Fülle der gleichzeitig stattfindenden Entwicklungen weder überschau­en noch mit Aussicht auf Erfolg beeinflussen können, desto größer wird die Attraktivität der Auskunft: Das stoppen wir.

Je komplizierter die Welt wird – und unsere Welt ist vermutlich die komplizierteste Version der Welt, die es bislang gab –, desto größer wird die Attraktivität von einfachen Antworten für komplizierte Zu­sammenhänge. George Bernard Shaw hat mal geschrieben: „Für jede komplizierte Frage gibt es eine einfache Antwort… Und die ist falsch!“ Von der Faszination des ersten Satzes lebt der Populismus, und von der Einsicht in den zweiten Satz lebt die Vitalität einer Demokratie. Es gibt nie einfache Lösungen, jedenfalls sind sie regelmäßig falsch. Sie sind regelmäßig mit Nebenwirkungen verbunden, die man nicht wollen kann, aber in Kauf nehmen müsste, die man mindestens bedenken muss, bevor man sich zu dieser oder jener scheinbar einfachen Lösung entscheidet.

2018 haben die beiden US-amerikanischen Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt einen Untersuchung „How Democracies Die“ vorgelegt. Das Aufregendste an diesem Buch ist, dass man, wenn man es zuklappt, denkt, man hat nichts Neues gelesen. Alles, was die schreiben, hat man mit­bekommen. Aber man hat nicht registriert, was eigentlich mit uns und um uns herum längst stattfindet. Die zentrale These der beiden Autoren lautet, in der Vergangenheit war die Demokratie in der Regel be­droht durch das Risiko von Militärputschen, von Bürgerkriegen oder von externer Aggression. Seit Fu­kuyamas Zeiten, seit dem scheinbar endgültigen Siegeszug der Demokratie, kollabieren Demokratien nicht mehr durch Militärputsche, auch nicht durch Bürgerkriege. Sie kollabieren durch Wahlen. Die Au­toren führen ein Beispiel nach dem anderen, mehr als zwei Dutzend Staaten, mit einer erschreckenden Plausibilität auf.

Sie machen auf einen Umstand aufmerksam, den wir gar nicht ernst genug nehmen können, nämlich das, was in den vergangenen Jahren nicht als Horrorszenario für die Zukunft, sondern als empirisch nachvoll­ziehbare Prozesse in vielen Ländern der Welt stattgefunden hat, die Folge von Wahlergebnissen waren, durch die sich in demokratischen Wahlen in Ämter gekommene Führungen legitimiert sehen, die Ein­schränkung der Unabhängigkeit der Justiz, die Begrenzung von Minderheitsrechten, die Beschneidung der Pressefreiheit mit den Mitteln des Gesetzes einzuführen und durchzusetzen, die am Ende genau die­sen Erosionsprozess bedeuten.

Es ist jetzt gerade mal ein gutes Jahr her, seit in der Türkei, aus vielen Gründen in einem für uns wichti­gen Partnerland, eine labile, aber sich seit Jahren doch kontinuierlich entwickelnde parlamentarische De­mokratie durch ein autoritäres Präsidialsystem ersetzt worden ist, unter sorgfältiger Amputation der Ge­waltenteilung durch Volksentscheid. Soviel zur Überlegenheit plebiszitärer Verfahren gegenüber reprä­sentativen Entscheidungsprozessen.

Im Vergleich dazu ist die Brexit-Entscheidung der Briten – auch durch Plebiszit; die möglicherweise verhängnisvollste Fehlentscheidung in der jüngeren britischen Geschichte, die von vielen Briten ja of­fenkundig auch so empfunden wird, denn Sie treffen ja niemanden, der dagegen gewesen sein will – noch beinahe die harmlosere Variante. Obwohl die Beschädigungen durch diese Entscheidung, die sich sowohl für unser Land als auch für die Europäische Union ergeben, schon jetzt nur noch schwer zu über­sehen sind.

Wir reden also über ein Thema und über längst stattfindende Entwicklungsprozesse, die wir gar nicht ernst genug nehmen können, und bei denen der vielleicht einzig tröstliche, jedenfalls der mit Abstand wichtigste tröstliche Befund der ist: Nichts davon ist zwangsläufig. Es hätte auch anders sein können, als es ist. So wie im Übrigen – ohne die Historie jetzt überstrapazieren zu wollen – das schnelle Scheitern der ersten deutschen Demokratie, ganz sicher nicht zwangsläufig war, auch wenn es eben sicher nicht zufällig erfolgt ist. Die Ursachen lassen sich relativ gut rekonstruieren, und am Ende gilt für den einen wie für den anderen Verlauf: Es ist die souveräne Entscheidung von mündigen Bürgerinnen und Bürgern gewesen, was aus dem jeweiligen Land geworden ist oder in Zukunft wird.

Barack Obama hat gesagt: „Die Demokratie ist immer dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen beginnen, sie für selbstverständlich zu halten.“ Sie ist nicht selbstverständlich. Es hat tausende Jahre der Menschheit gebraucht, bis man auf die Idee gekommen ist. Es hat Jahrhunderte gebraucht, bis diese Idee Realität geworden ist. Wir machen in den Jahrzehnten, die wir hinter uns haben, erstaunliche Erfahrun­gen, was das Überleben und Scheitern dieser Struktur angeht, und wir nehmen zu selten zur Kenntnis, dass die Demokratie nicht nur eine der größten Errungenschaften unserer Zivilisation, sondern bedauer­licherweise auch eine der labilsten Errungenschaften unserer Zivilisation ist.

Sie steht nicht unter Denkmalschutz. Sie steht und fällt mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bür­ger. Autoritäre Systeme brauchen kein Bürgerengagement. In der Regel mögen sie es auch nicht, und wenn es sein muss, dann verbieten sie es. Demokratien erlauben es nicht nur, sie brauchen es. Vielleicht ist das größte Überlebensrisiko der Demokratie die Großzügigkeit, den eigenen Bürgern politisches En­gagement zu ermöglichen, sie aber nicht dazu zu verpflichten. Dass ich nach all dem nur dringend emp­fehlen kann, die Verantwortung wahrzunehmen, jeder Einzelne für sich, für diese historische Errungen­schaft, auch und gerade mit Blick auf die deutsche Geschichte, versteht sich hoffentlich von selbst.

Norbert Lammert (1948) gehörte 1980 – 2017 dem Deutschen Bundestag an und war 2005 – 2017 des­sen Präsident. Von 1989 – 1998 war er Parlamentarischer Staatssekretär in den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr und danach bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 2002 wurde er Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Seit Anfang 2018 ist er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, deren zuvor seit 2001 war. Norbert Lammert ist Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de

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