Volker Kauder unterstreicht die Bedeutung von Religionen in der Welt und sieht im Glauben der Menschen vielmehr das Potential, bei der Lösung von Problemen helfen als sie zu verursachen.
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Volker Kauder
Die Bedeutung und die Rolle der Religionen in der Welt
Viele Menschen in Deutschland wenden sich von dem Glauben ihrer Eltern und den religiösen Traditionen ihrer Familien ab. In unserem Land wie in den meisten europäischen Ländern spielen Religion und Glauben eine immer geringere Rolle im Leben und im Alltag der Menschen. Religiöse Traditionen und hergebrachte Regeln wie die Sonntagsruhe verlieren – wie der religiöse Charakter von Feiertagen – Sinn und Bindungskraft. Schleichend, aber zuweilen auch machtvoll und mit Häme, wie etwa in der Verächtlichmachung von religiösen Symbolen und Figuren, verdrängt Europa seine religiösen Wurzeln. Vielfach ist die Überzeugung zu vernehmen, Religion sei Privatsache.
Weltweit aber läuft der Trend in die entgegengesetzte Richtung. Religion und Glaube sind und bleiben wesentliche und bestimmende Faktoren für eine wachsende Mehrheit der Menschheit und prägen so unsere Zeit. Projektionen wie „The Future of World Religions“ des Pew-Forschungszentrums weisen nach, wie die Relevanz des westlichen Agnostizismus in den kommenden Jahren abnimmt. Die Welt ist nicht nur religiös gebunden, auch die Bedeutung dieser Bindung wächst. Gerade wenn wir in anderen Zusammenhängen davon sprechen, dass wir unsere europäische Weltsicht ab und an überprüfen müssen, um die Welt besser zu verstehen, gilt dies in diesem Fall ausdrücklich.
Für viele Menschen in der Welt liegt die Bedeutung des Glaubens für das eigene Leben in der Lebenspraxis, in den Festen und Traditionen, der Erziehung der Kinder und dem Wertesystem, in dem sich Menschen bewegen. Zuweilen hilft die Erinnerung an den Zustand unseres Landes vor 50 Jahren – ein Zeitraum, der sich in den meisten Familien in der Erinnerung gut überbrücken lässt. Fremd ist uns die Religion seitdem erst geworden.
Dieser Trend gilt im Guten wie im Schlechten. Während Glaube und Religion Menschen auf der ganzen Welt geistige und seelische Heimat vermitteln können, tragen sie auch dazu bei, Unterschiede und Widersprüche zu betonen und das Zusammenleben zu erschweren. Auch hier hilft die Erinnerung – auch in Deutschland erwuchs ein echtes Problem, wenn die Liebe die Konfessionsgrenzen überbrücken wollte. Aus heutiger Perspektive wirken die auch und gerade wegen ihrer Ernsthaftigkeit kaum mehr zu begreifenden Debatten, ob etwa die Kinder katholisch oder evangelisch zu erziehen seien, seltsam fremd. Und doch haben sich diese Unterschiede und Widersprüche sehr deutlich und zuweilen sogar schmerzhaft in Biografien ausgewirkt.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass gerade in unseren Tagen ein Zusammenleben von Glaubensgemeinschaften an sich in Frage gestellt ist, selbst dort, wo es eine lange Tradition hat. So sind etwa der Nahe Osten, Ostafrika, Süd-Ost-Asien, aber auch der indische Subkontinent einem enormen Druck ausgesetzt. Vielfach sind übrigens gerade Christen von dieser Diskriminierung bis hin zur Verfolgung betroffen, selbst wenn es keine Religion gibt, deren Angehörigen überall unbehelligt leben können.
Es erschreckt, dass es viele, die die wachsende interreligiösen Entfremdung aus einer säkularen Perspektive beobachten, nicht wahr haben wollen, was sich vor ihren Augen abspielt. Es gibt Kommentatoren, die der Ansicht sind, Religion wäre nur eine Fassade für die tatsächlich für die Gewaltausbrüche verantwortlichen materiellen Verteilungskämpfe und sozialen Auseinandersetzungen. Das greift nach meinen Erfahrungen, die ich auch bei vielen Reisen in Konfliktgebiete bestätigen konnte, aber zu kurz.
Denn: Dass Religion umgekehrt eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Frieden und Ausgleich zukommen kann, steht nicht nur außer Frage. Es ist eine Wahrheit, an die wir nicht oft und nicht deutlich genug erinnern können. Wie es der scheidende Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki Moon, mit Blick auf die Entwicklung im Nahen Osten benannt hat, müssen religiöse Würdenträger sich an die Rolle der Religionen als Friedensspender und Friedensvermittler erinnern und diesem Anspruch gerechter werden. Wir müssen sie daran erinnern, dass ohne die Religionsfreiheit, ohne die Freiheit der religiösen Minderheiten auch die religiöse Freiheit der Mehrheit in Gefahr ist. Nicht zuletzt stellen Muslime die weitaus größte Zahl der Opfer der Terrormiliz Islamischer Staat.
In seiner ersten Enzyklika „Evangelii Gaudium“ betonte Papst Franziskus im Jahr 2013 die große Bedeutung des interreligiösen Dialogs, der „eine notwendige Bedingung für den Frieden in der Welt und darum eine Pflicht der Christen“ darstelle. Er unterstreicht dabei, dass dieser hier nicht durch einen „versöhnlichen Synkretismus“ erlangt werden, sondern nur auf der „klaren und frohen Identität“ der Partner aufbauen kann.
Ein interreligiöser Dialog ist kein Dialog der Geistlichen, er lebt – neben der Kenntnis der eigenen Position – auch und gerade von der Tatsache, dass er auf möglichst vielen Ebenen stattfindet. Allerdings setzt er voraus, sich selbst und das Gegenüber als religiösen Menschen, als Glaubenden zu verstehen.
Ich selbst führe diesen Dialog als Mitglied der internationalen Parlamentariergruppe für Religionsfreiheit (International Panel of Parliamentarians for Freedom of Religion or Belief, kurz: IPPFoRB). Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag war Gastgeberin des diesjährigen Treffens dieses großen Zusammenschlusses von Abgeordneten, das im September in Berlin stattfand. Mehr als 100 Parlamentsangehörige aus 60 Staaten waren Gast in der deutschen Hauptstadt, alle Weltreligionen waren vertreten. Im Austausch der Parlamentarier gab es keinen Zweifel an der grundlegenden Bedeutung des Artikels 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der die Religionsfreiheit jedes einzelnen Menschen als schützenswertes Gut beinhaltet. Im Gegenteil, gemeinsam traten die Vertreter aller Parteien des politischen Spektrums für mehr Religionsfreiheit in Staaten ein, die dieses Gut nicht ausreichend schützen – etwa der Iran, Vietnam, der Sudan oder Eritrea.
Diese Zusammenarbeit, die unter ippforb.com umfangreich dokumentiert ist, zeigt, wie interreligiöser Dialog zu gemeinsamen Werten und zielgerichtetem Handeln führen kann. Ich bin der Überzeugung, dass wir diese Chancen gerade dann erschließen können, wenn wir als religiöse Menschen zusammenfinden. Die Religion, der Glaube der Menschen stellt selten das Problem dar – wohlverstanden kann er aber häufig bei der Lösung helfen.
Volker Kauder (1949), aufgewachsen in Singen am Hohentwiel, Studium der Rechts- und Staatswissenschaft in Freiburg im Breisgau. Seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestags. Stationen als 1. Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion sowie als Generalsekretär der CDU. Seit 2005 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er ist verheiratet, evangelisch und setzt sich seit Jahren für Religionsfreiheit und Christen in Bedrängnis ein.