Stefan Reker rät der CDU mit ausdrücklichem Bezug auf das christlich Menschenbild eine „Ethik der Nachhaltigkeit“ – vom Klima bis zur Sozialversicherung ins Zentrum ihrer Politik zu rücken.
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Stefan Reker
CDU wohin?
Für eine „Ethik der Nachhaltigkeit“ – vom Klima bis zur Sozialversicherung
Welche Rolle spielt das ‚C‘ in der politischen DNA unserer CDU für weltliche Themen der heutigen Politik? Das ‚C‘ gibt Orientierung und ein klares Werte-Gerüst für den politischen Kurs – stellt uns damit allerdings auch vor unbequeme Fragen. Ganz vorne steht natürlich das Eintreten für die Würde des Menschen, für sein Recht auf Unterschiedlichkeit, für Freiheit und Pluralität; und für den Rechtsstaat, der dies alles auch tatsächlich schützt. Das bewahrt nicht vor Gewissenskonflikten in der Realpolitik, etwa im Umgang mit Staaten wie China und Russland oder mit den weltweiten Fluchtbewegungen und ihren Ursachen.
Das christliche Menschenbild hilft nicht nur bei den „großen“ Fragen, die Orientierung zu behalten, sondern auch im kleinteiligen Alltag der Sozialpolitik. Auf diesen Teilbereich möchte ich mich hier konzentrieren. Gerade für die Sozialpolitik bietet die katholische Soziallehre wichtige Anhaltspunkte, allen voran die Idee der Subsidiarität, die uns auch heute noch leiten sollte: „Dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, darf ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden“ (Papst Pius XI. in seiner Sozial-Enzyklika). Dieser Respekt vor dem verantwortlichen Individuum und seinem Vorrang vor kollektivistischer Vereinnahmung oder paternalistischer Fremdbestimmung – das ist für mich ein wesentlicher Leitstern des ‚C‘.
In der aktuellen Sozialpolitik stellen sich mir aus dem Blickwinkel der Subsidiarität einige kritische Fragen. Dazu ein kleines Beispiel aus jüngerer Zeit: In der Corona-Pandemie gab es neben milliardenschweren Rettungsschirmen von den Kliniken bis zum Kulturbetrieb auch ein aufwändiges „Sonderangebot“. Allen über 60-Jährigen wurden mehrmals je drei FFP2-Schutzmasken angeboten – auf Staatskosten, inklusive bürokratischem Großaufwand zum Druck fälschungssicherer Gutscheine und Postversand an zig Millionen Menschen. Subsidiarität? Drei FFP2-Masken kosten weniger als eine Schachtel Zigaretten oder zwei Feierabendbiere. Das können sich die allermeisten also durchaus selbst leisten, ohne überfordert zu sein. Dem christlichen Menschenbild würde es eher entsprechen, hier die Eigenverantwortung des Einzelnen einzufordern – natürlich ergänzt durch gezielte Hilfen für diejenigen, die damit überfordert wären.
Apropos „auf Staatskosten“. Die wohlfeile FFP2-Aktion kostet 2,5 Milliarden Euro. Geld, das „der Staat“ gar nicht hat, sondern das mit zusätzlichen Schulden bezahlt wird. Generell könnte man Verschuldung auch als groben Verstoß gegen die Subsidiarität bezeichnen. Denn die derzeit aktive Generation nutzt eben nicht ihre eigenen Kräfte, sondern verschiebt ihre Lasten auf andere. Das lässt sich zum Bezahlen echter Zukunftsinvestitionen durchaus rechtfertigen. Doch alle Staatsschulden, egal wofür sie ausgegeben werden, haben eines gemeinsam: Sie belasten die nachfolgenden Generationen. Deshalb wurde die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert – geboren aus der Ethik der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Das hat die Union mühsam durchgesetzt, doch seither lassen wir es leider zu, dass die Schuldenbremse zusehends zur technokratischen Floskel einer „schwarzen Null“ degeneriert.
Die Ethik der Verantwortung für die Lebensgrundlagen nachfolgender Generationen gilt natürlich nicht nur bei den Staatsschulden. Sie muss uns in der Energie- und Klimapolitik ebenso leiten wie in der Umwelt- und Agrarpolitik. Und dieselbe Ethik der Nachhaltigkeit muss auch für unsere sozialen Sicherungssysteme gelten. Aus dem Blickwinkel der Subsidiarität sehe ich die Politik der Union hier auf problematischem Kurs.
Wenn demnächst die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, werden deren Beitragszahlungen zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung beträchtlich sinken und überdies die Ausgaben stark steigen. Die Zahl der Über-80-Jährigen wird sich in den kommenden Jahrzehnten verdreifachen – und damit auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Zugleich wird die Zahl der Menschen im aktiven erwerbsfähigen Alter, die den Sozialstaat als Steuer- und Beitragszahler tragen müssen, um etwa ein Drittel sinken. Das alles ist seit langem bekannt und schreit förmlich nach Vorkehrungen gegen diesen absehbaren „Erdrutsch“ in unseren Sozialsystemen.
In Deutschland lebt zurzeit die wohlhabendste Rentnergeneration aller Zeiten. Das ist ein grandioser Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft und der deutschen Politik seit 1948. Dennoch hatte die Union in den letzten Jahren nicht genügend Mut, auf dieser guten Basis die unbequemen Wahrheiten über die Folgen des demografischen Wandels anzusprechen. Genau das wäre nötig, um die Eigenverantwortung der Menschen zu mobilisieren, damit der Sozialstaat diese Herausforderung bestehen kann.
Doch die Union hat zusammen mit der SPD in der Regierung allzu oft das Gegenteil getan. Ob Mütterrente oder Rente mit 63 – immer neue milliardenschwere Leistungen auf Kosten künftiger Beitragszahler kamen hinzu, als gäbe es kein Morgen. Und heute steht die Union sogar in der Versuchung, noch mehr Leistungsversprechungen „draufzusatteln“.
Die aktuellen Pläne zur erneuten Ausweitung der Pflegeversicherung würde die Pflegekosten beträchtlich erhöhen, zugleich aber die Eigenverantwortung der Versicherten auf 700 Euro im Monat deckeln – völlig losgelöst von der individuellen Finanzlage. Dabei haben 70 Prozent der Rentnerhaushalte genug Einkommen und Vermögen zur Bezahlung von drei Jahren im Pflegeheim, 67 Prozent sogar bis zu fünf Jahre (IW Köln 2020). Es gibt also eine durchaus gute Basis für Eigenverantwortung. Und wer weniger gut ausgestattet ist, für den greift bei Bedarf die soziale Hilfe zur Pflege – wobei die Zahl der Bedürftigen in den letzten Jahren stetig gesunken ist. Die Pflegeversicherung erfüllt also ihren Auftrag recht gut. Es gibt keinen Grund, sie mit der Gießkanne für alle Versicherten auszuweiten.
Eine solche Reform wäre für mich das Gegenteil von Subsidiarität. Sie würde eine „Vollkasko-Illusion“ nähren, anstatt die Menschen zu mehr eigener Vorsorge zu motivieren. Zudem würde die Pflegeversicherung dadurch erstmals von einem Geldzuschuss aus der Staatskasse abhängig, anfangs mit 6 Mrd. Euro pro Jahr aus dem Bundesetat – de facto also aus Schulden und damit wieder voll zu Lasten der nachfolgenden Generationen. Die Summe mag auf den ersten Blick nicht erschreckend wirken, doch die Kosten würden mit der Demografie dramatisch ansteigen. Die Stiftung Marktwirtschaft beziffert die gesamten Folgekosten dieser aktuellen Reformpläne auf mehr als 500 Milliarden(!) Euro. Das zeigt die Abgründe, wenn populäre Versprechen von heute mit versteckten Schulden auf Kosten der Erwerbstätigen von morgen eingekauft werden.
Aus meiner Sicht verstößt dies gegen die Ethik der Nachhaltigkeit, die wir den Nachgeborenen schuldig sind. Oder fänden wir es etwa verantwortbar, jetzt riesige neue Kohlekraftwerke zu bauen, wenn sie ihre CO2-Abgase erst in künftigen Jahrzehnten ausstoßen würden? Das ‚C‘ sollte es uns verbieten, diesen sozialpolitischen Herausforderungen länger ausweichen oder Illusionen zu wecken. Um es mit Ingeborg Bachmann zu sagen: Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.
Stefan Reker (1959) ist seit 44 Jahren CDU-Mitglied. Über 20 Jahre beobachtete er als Journalist die Bundespolitik (Focus, Rheinische Post u.a.). Seit 2009 ist er Sprecher des Verbands der Privaten Krankenversicherung. Buchveröffentlichungen: Biografie Bundespräsident Herzog (1995), 50 Jahre Deutscher Bundestag (1999).