Joachim Koschnicke sieht Deutschland vor wichtigen Richtungsentscheidungen nach innen und außen, die noch zu wenig im politischen Fokus stehen.
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Joachim Koschnicke
Wahljahr 2021 – Es geht um mehr als um Deutschland
Der Blick auf das Wahljahr beginnt mit einer schlagwortartigen Vermessung der Ausgangslage:
- Je mehr Bürger gegen Covid-19 geimpft sein werden, desto mehr wird sich der Fokus auf die Folgen und Lehren der Pandemie richten.
- Präsident Trump hat die Globalisierung aufgehalten und versucht, sie zurück zu drehen; ein „back to normal“ ist trotz seiner Abwahl nicht zu erwarten. Die Trump-Administration stand für ein ‚De-Coupling‘, also eine Abgrenzung maximal vieler Wirtschaftsräume von China. Die Folgen dieser Strategie für die europäische Wirtschaft sind klar: sie wären verheerend.
- Die Europäische Union hat zum ersten Mal ein Mitglied verloren, weil Großbritannien glaubt, allein stärker als in der Gemeinschaft zu sein. Die Idee des vereinten Europas wird geliebt, die Umsetzung nicht.
- Die Europäische Kommission sucht nach einer eigenständigen Positionierung. Die Diskussionen unter der Überschrift „Strategic Autonomy“ werden aus einer Position der Schwäche geführt.
- Deutschland und Europa werden spätestens Ende 2021 ausgelöst durch eine Insolvenzwelle vor neuen sozialen Herausforderungen bei leeren Haushalten stehen.
- Egal, wer Bundeskanzlerin Merkel nachfolgt, wird Zeit brauchen, um in internationalen bzw. geopolitischen Fragen eine vergleichbare prägende Position einnehmen zu können.
- Wenige Monate nach der Bundestagswahl in Deutschland wird auch in Frankreich neu gewählt. Sollte Präsident Macron – wie die Mehrzahl seiner Vorgänger – an der Wiederwahl scheitern, würde auch er als prägende Figur für Europa wegfallen.
- Die Populisten in Deutschland erhalten durch Querdenker und Impfgegner gleichzeitig Wettbewerb und Sauerstoff zugeführt. Die etablierte Politik in Deutschland hat es 2017 nicht vermocht, die AfD aus dem Bundestag fern zu halten. Eine Strategie für die Bundestagswahl 2021 wurde bis dato nicht formuliert.
- Der Akzeptanz des Föderalismus in Deutschland hat durch die quälenden Debatten zur Corona-Bekämpfung massiven Schaden erlitten.
- Ähnlich die Amts-Kirchen: sie fanden entweder nicht statt oder sind durch unerträgliche Skandale bzw. befremdlichen Positionen (Papst zur Marktwirtschaft) negativ aufgefallen. Ethikräte haben den Platz der Kirchen auf den Podien Deutschlands eingenommen.
- Künstliche Intelligenz wird unsere Arbeitswelt und Sozialräume so dramatisch verändern wie es zuletzt die Industrialisierung vermocht hat. Die politischen, sozialen und ethischen Fragen, die damit einhergehen, werden aktuell nicht in der Breite diskutiert.
Die aktuelle politische Debatte in Deutschland blendet viele dieser Punkte aus und bietet (noch) nicht das Fundament für eine Richtungswahl. Genau darin liegt jedoch die Chance! Die Welt ist nicht „flach“. Europa braucht eine Zukunftsstrategie. Deutschland hat eine Verantwortung nach innen wie für Europa und die Welt. Unsere Gesellschaft sucht nach Ersatz für wegbrechende sinnstiftende Konstanten. Unsere föderale Ordnung ist in Unordnung…
Die Ausgangslage vor früheren Wahljahren war weniger packend. 2021 könnte für ein Jahr der Richtungsentscheidungen stehen. Der Rahmen für ein „Zukunfts-Angebot“ könnte wie folgt aussehen:
- Spätestens die Pandemie hat gezeigt, dass es international mehr statt weniger Kooperation braucht. Eine Strategie der Abgrenzung (‚De-Coupling‘) ist die falsche Antwort. Die Überschrift der europäischen Agenda „Strategic Autonomy“ ist in diesem Zusammenhang erklärungsbedürftig. Europa hat allein keine Zukunft. Europa ist gleichzeitig reformbedürftig. Stichworte sind „Kerneuropa für Länder mit klarem Bekenntnis zu den gemeinsamen Werten“ und „Mehrheitsentscheidungen“.
- Projekte wie Nordstream 2 oder auch die Regulierung zu 5G müssen Deutschland und Europa gegenüber der neuen US-Administration verteidigen. Diplomatischer Dissens dazu oder zu anderen Fragen darf unter Freunden kein Problem sein. So massive Einmischungen wie unter der Trump-Administration darf es künftig nicht mehr geben, wenn das transatlantische Verhältnis erfolgreich neu gestartet werden soll.
- Deutschland hat in den letzten Jahren an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA und China verloren. Mit 5G und seinen Anwendungen wird jedoch das nächste Wirtschaftswunder geschrieben. Noch können wir das nächste Wirtschaftswunder „nach Hause“ holen. Dafür braucht es eine Politik, die digitale Ökosysteme fördert. Diese Ökosysteme müssen natürlich unseren Vorstellungen von Datensicherheit und Datenschutz folgen. Wenn wir jedoch weiter zuwarten, wird uns keiner mehr danach fragen, weil diese Ökosysteme woanders entstehen.
- In Sachen Data-Privacy brauchen wir eine Denkpause. Die letzten Monate der Pandemiebekämpfung haben nicht nur dem Föderalismus geschadet, sondern auch dem berechtigten Anliegen des Datenschutzes. Was im Zusammenhang mit der Corona-Warn-App passiert ist, ist passiert – in Zukunft brauchen wir aber ein anderes Grundverständnis: aktuell sind private und gesellschaftliche Schutzinteressen nicht in der notwendigen Balance.
- „Made in Germany“ hat durch die Diesel-Krise, desaströse Infrastrukturprojekte und zuletzt den Machenschaften von Wirecard Schaden genommen. Innovationserfolge z.B. durch BioNTech machen aber Mut, dass unser Markenzeichen wieder positiv aufgeladen werden kann. Das Schöne am Beispiel BioNTech ist: das Unternehmen steht mit seiner M-RNA-Technologie sowohl für Innovation wie für Diversität (sechzig Nationalitäten), internationale Kooperation (Pfizer aus den USA, Fosum aus China) und europäische Lieferketten (mit systemrelevanten Partnern außerhalb Deutschlands).
- Bund und Länder sollten nach Überwindung der Corona-Krise eine ehrliche Stärken- und Schwächen-Analyse vornehmen. Vielleicht brauchen wir sogar einen Konvent, der Vorschläge für unsere föderale Ordnung bzw. unser Miteinander in und mit Europa erarbeitet und Raum im politischen Diskurs einnimmt. Ein solcher Konvent sollte keinen reinen Verfassungs-, sondern einen Verfassheits-Charakter haben. Denn auch die drei Wesensmerkmale einer modernen Sozialen Marktwirtschaft „Ökonomie“, „Ökologie“ und „Soziales“ müssen nach der Corona-Bekämpfung neu austariert werden. Das geht nicht per Knopfdruck, sondern verlangt eine mittelfristige Strategie, die den europäischen, nationalen und die föderalen Blickwinkel umfassen sollte.
- Die nächste Regierung sollte gemeinsam mit den Gewerkschaften, Kirchen und der Wissenschaft über die Folgen von KI und Handlungsnotwendigkeiten diskutieren. Auch verstanden als Angebot an die Kirchen und Gewerkschaften, wieder mehr Relevanz zu entfalten.
Joachim Koschnicke (1972) ist seit 2018 Partner bei der Unternehmensberatung für strategische Kommunikation ‚Hering Schuppener‘, die nun zu ‚Finsbury Glover Hering‘ firmiert. Von 1999 bis 2011 wie in 2017 war er Mitarbeiter des Konrad-Adenauer-Hauses in verschiedenen Funktionen – von 2005 bis 2011 wie in 2018 als Leiter ‚Strategische Planung und Kommunikation‘. Zwischen 2011 und 2018 war er geschäftsführender Gesellschafter bei Forsa und danach Vice President bei Opel/Vauxhall.