Jochen Ott sieht in der Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus eine leuchtende Vision in depressiver Zeit.
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Jochen Ott
Wir sind Papst!
Zur Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus
Seit langer Zeit fühle ich mich durch den Text eines Papstes wieder ermutigt: Durch die jüngste Enzyklika von Papst Franziskus. Im Gegensatz zu konservativen Kommentatoren in den deutschen Tageszeitungen empfinde ich unseren Papst als „Hirten in der Dunkelheit“.
Bereits die Wahl seines Namens „Franziskus“ war eine Botschaft: Der Papst ehrt damit den heiligen Franz von Assisi, der einer der populärsten Heiligen der Katholischen Kirche ist. 1181 in ein wohlhabendes Haus geboren, entschied er sich freiwillig für ein Leben in Armut. Sein Engagement und Einsatz galten vor allem den Schutzbedürftigen und Armen. Er setzte eine Bewegung in Gang, die sich in ganz Mittel- und Nordeuropa ausbreitete. Motiviert durch Franz von Assisi Tun hat unser Papst Franziskus die aktuelle Enzyklika der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft gewidmet.
Endlich ein Papst, der die christliche Botschaft ernst nimmt! Ich bin dankbar für seine deutlichen Worte über eine geschwisterlichere Welt und seine Haltung, die er damit ausdrückt. Ich möchte einige seiner Punkte, die mich am meisten bewegt haben, hervorheben:
Geschwisterliebe
Papst Franziskus hat – wahrscheinlich mit viel Gegenwind von Vatikan und Bischöfen – ein eindeutiges Bekenntnis zu den Armen und denjenigen, die lange Zeit in der Katholischen Kirche als anders oder fremd wahrgenommen wurden, ausgesprochen. Die Würde eines jeden einzelnen Menschen anzuerkennen ist sein großer Wunsch: „Träumen wir als eine einzige Menschheit, als Weggefährten vom gleichen menschlichen Fleisch, als Kinder der gleichen Erde, die uns alle beherbergt, jeder mit dem Reichtum seines Glaubens oder seiner Überzeugungen, jeder mit seiner eigenen Stimme, alles Geschwister“ (8).
Wie die Punkband „Die Ärzte“ in ihrem neuen Album – das nicht ohne schelmischen Hintergedanken „Hell“ heißt – deutlich und zum wiederholten Male besingt: Es ist die Liebe, die etwas ändert. Schon in ihrem Kulturgut „Schrei nach Liebe“ aus dem Jahr 1993 hatten die Musiker die Botschaft aus dem Märchen „Die Schöne und das Biest“ verinnerlicht, die eigentlich eine christliche Kernbotschaft ist: Nicht Hass oder Krieg verändern Menschen, sondern die Liebe! Und Papst Franziskus widmet dieser (weltweiten!) geschwisterlichen Liebe seine Aufmerksamkeit und ermahnt uns (8).
Inhaltsloser Individualismus und Verlust des Geschichtsbewusstseins
Spätestens mit dem Amtsantritt von Thatcher 1979 in Großbritannien begann eine Phase, in der der wirtschaftspolitische Liberalismus seinen Siegeszug antrat. Flankiert wurde diese Wirtschaftsliberalisierung durch einen gesellschaftspolitischen Liberalisierungs- und Individualisierungsschub, der mit der Gründung der Grünen in Deutschland seinen Anfang nahm und sich in der Politik der Sozialdemokraten Schröder und Blair fortsetzte.
Heute spüren wir im Ergebnis, schreibt Franziskus, dass „ein inhaltsloser Individualismus, der nur noch aus dem Wunsch besteht, grenzenlos zu konsumieren“ (13) entstanden ist. Der Verlust von Geschichtsbewusstsein hinterlässt Menschen leer, entwurzelt, misstrauisch gegenüber allem; sie können somit auch leichter durch Ideologien instrumentalisiert werden (13). Doch wenn sich das Geschichtsbewusstsein, das kritische Denken und der Einsatz für Gerechtigkeit auflösen, kommt es zur Sinnentleerung oder zum Missbrauch großer Wörter: „Was bedeuten heute einige dieser Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Einheit? Sie sind manipuliert und verzerrt worden, um sie als Herrschaftsinstrumente zu benutzen, als sinnentleerte Aufschriften, die zur Rechtfertigung jedweden Tuns dienen können“ (14). Wenn Hoffnungslosigkeit ausgesät und ständiges Misstrauen geweckt wird, folgt der „politische Mechanismus des Aufstachelns, Verhärtens und Polarisierens“ (15). Die Politik ist dann „nicht mehr eine gesunde Diskussion über langfristige Vorhaben für die Entwicklung aller und zum Gemeinwohl, sondern bietet nur noch flüchtige Rezepte der Vermarktung, die in der Zerstörung des anderen ihr wirkungsvollstes Mittel finden“(15).
Der Papst zwingt uns, hinzuschauen
„Wenn man unsere gegenwärtigen Gesellschaften aufmerksam beobachtet, entdeckt man in der Tat zahlreiche Widersprüche, aufgrund derer wir uns fragen, ob die Gleichheit an Würde aller Menschen, die vor nunmehr 70 Jahren feierlich verkündet wurde, wirklich unter allen Umständen anerkannt, geachtet, geschützt und gefördert wird“(26).
Papst Franziskus konkretisiert dies, indem er sich mit den großen Themen der Zeit beschäftigt:
Eine uralte Angst ist die Angst vor dem unbekannten und unvertrauten Anderen: „Folglich werden neue Schranken zum Selbstschutz aufgerichtet, sodass nicht mehr die eine Welt existiert, sondern nur noch die „meine“, bis zu dem Punkt, dass viele nicht mehr als Menschen mit einer unveräußerlichen Würde angesehen werden, sondern einfach zu „denen da“ werden“ (27).
Er weiß, Migration wird „ein grundlegendes Element der Zukunft der Welt darstellen“(40). Papst Franziskus betont die Würde eines jeden einzelnen Menschen und bekennt sich zu Geflüchteten und Migrant*innen und ihren Träumen. Gleichzeitig kann er „nachvollziehen, dass manche gegenüber den Migranten Zweifel hegen oder Furcht verspüren“ (41) und diese Ängste „oft für politische Zwecke angeheizt und missbraucht werden“ (39). Er lädt dazu ein, über diese primären angstgeleiteten Reaktionen hinauszugehen und Denk- und Handlungsweisen zu ändern um nicht – auch nicht unbewusst – rassistisch zu werden. „Denn so beraubt uns die Angst des Wunsches und der Fähigkeit, dem anderen […] zu begegnen“ (41).
„Es gibt heute in der Welt weiterhin zahlreiche Formen der Ungerechtigkeit, genährt von verkürzten anthropologischen Sichtweisen sowie von einem Wirtschaftsmodell, das auf dem Profit gründet und nicht davor zurückscheut, den Menschen auszubeuten, wegzuwerfen und sogar zu töten. Während ein Teil der Menschheit im Überfluss lebt, sieht der andere Teil die eigene Würde aberkannt, verachtet, mit Füßen getreten und seine Grundrechte ignoriert oder verletzt“ (86). Den Papst betrübt „die Tatsache, dass die Kirche trotz solcher Motivationen so lange gebraucht hat, bis sie mit Nachdruck die Sklaverei und verschiedene Formen der Gewalt verurteilte“(86). „Was sagt das über die Gleichheit der Rechte aus, die in derselben Menschenwürde begründet liegen?“(22) Franziskus konfrontiert den Wirtschaftsliberalismus mit seinen Folgen.
Das Bekenntnis zu allen drei Werten der Französischen Revolution
Freiheit und Gleichheit sind Bedingungen für die Möglichkeit von Brüderlichkeit, und erst Brüderlichkeit fügt der Freiheit und Gleichheit etwas positives zu. Doch dies muss eine bewusst kultivierte Brüderlichkeit mit politischem Willen sein, dem ein Wille „zum Dialog, zur Entdeckung des Wertes der Gegenseitigkeit und wechselseitiger Bereicherung“ (103) vorgeht. Ohne diesen Willen schwindet die Freiheit und führt zu Einsamkeit oder reinem Konsumzwang (103). Gleichheit ist in diesem Sinne ein „Ergebnis einer bewussten und pädagogischen Pflege der Brüderlichkeit. [Denn] Diejenigen, die nur mit ihresgleichen zusammen sein können, schaffen geschlossene Welten“ (104). Individualismus macht uns dabei nicht „freier, gleicher oder brüderlicher. Die bloße Summe von Einzelinteressen ist nicht in der Lage, eine bessere Welt für die gesamte Menschheit zu schaffen“ (105). Solidarität hingegen bedeutet, dass man im Sinne der Gemeinschaft denkt und handelt, dass „man gegen die strukturellen Ursachen der Armut kämpft: Ungleichheit, das Fehlen von Arbeit, Boden und Wohnung, die Verweigerung der sozialen Rechte und der Arbeitsrechte. Es bedeutet, dass man gegen die zerstörerischen Auswirkungen der Herrschaft des Geldes kämpft […]. Die Solidarität, verstanden in ihrem tiefsten Sinne, ist eine Art und Weise, Geschichte zu machen, und genau das ist es, was die Volksbewegungen tun“ (116). Man muss die Gesellschaft so organisieren und strukturieren, dass „der Nächste nicht im Elend leben muss“ (186).
Der Papst ist Vertreter eines Rheinischen Kapitalismus
Denn die „Erde ist für alle da, denn wir Menschen kommen alle mit der gleichen Würde auf die Welt. Unterschiede in Hautfarbe, Religion, Fähigkeiten, Herkunft, Wohnort und vielen anderen Bereichen können nicht als Rechtfertigung für die Privilegien einiger zum Nachteil der Rechte aller geltend gemacht oder genutzt werden. Folglich sind wir als Gemeinschaft verpflichtet, dafür zu sorgen, dass jeder Mensch in Würde leben kann und angemessene Möglichkeiten für seine ganzheitliche Entwicklung hat“ (118).
Eine Grundlage dafür ist wirtschaftliche Sicherheit. Doch der „Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will. […] Die Zerbrechlichkeit der weltweiten Systeme angesichts der Pandemie hat gezeigt, dass nicht alles durch den freien Markt gelöst werden kann und dass – über die Rehabilitierung einer gesunden Politik hinaus, die nicht dem Diktat der Finanzwelt unterworfen ist – wir die Menschenwürde wieder in den Mittelpunkt stellen müssen“ (168).
Papst Franziskus betont eine Wirtschaft, die dem Konzept des „Rheinischen Kapitalismus“ entspricht: „Das Recht einiger auf Unternehmens- oder Marktfreiheit kann nicht über den Rechten der Völker und der Würde der Armen stehen und auch nicht über der Achtung für die Schöpfung, denn wenn sich jemand etwas aneignet, dann nur, um es zum Wohl aller zu verwalten“ (122).
Ein Visionär, der auch aus der Geschichte lernt
Papst Franziskus bekennt sich zu und positioniert die Kirche als Kirche der Armen und Ausgegrenzten. Er will die Macht der Kirche für die Verwirklichung aller drei Werte der französischen Revolution einsetzen. Insofern ist es ein historischer Text. Wirtschaftsliberale Kommentatoren einiger Tageszeitungen glauben wirklich, dass der Markt die richtigen Instrumente für die ökologische Wende anbietet. Im Gegensatz dazu weiß der Papst, dass der Markt nicht geeignet ist, die großen Herausforderungen zu lösen. Stattdessen müssen die Marktinstrumente kritischer in den Blick genommen werden. Er weiß, dass die Sozialdemokratie in Europa mit dem Versuch, den Sozialstaat auch mit den Mitteln des Marktes zu entwickeln, in vielen Staaten Schiffbruch erlitten hat. Die Grünen sind auf dem Weg, in der schwarzgrünen Neuordnung denselben Fehler bei der ökologischen Wende zu machen. Franziskus hält fest:
„Der Schmerz, die Unsicherheit, die Furcht und das Bewusstsein der eigenen Grenzen, welche die [Corona-]Pandemie hervorgerufen haben, appellieren an uns, unsere Lebensstile, unsere Beziehungen, die Organisation unserer Gesellschaft und vor allem den Sinn unserer Existenz zu überdenken“ (33). Die Interpretation der christlichen Botschaft durch Papst Franziskus ist eine leuchtende Vision in einer depressiven Zeit. Und deswegen ist diese Enzyklika lesenswert und Richtschnur für christliche Politiker.
Jochen Ott (1974) ist seit 2010 Abgeordneter des Landtags NRW und dort stv. Vorsitzender der SPD-Fraktion. Nach seinem Abitur absolvierte der Kölner den Zivildienst in der Pfarrgemeinde St. Elisabeth in Höhenberg. Danach studierte er Geschichte, Sozialwissenschaften und Katholische Religion in Köln mit dem Ziel Lehramt.