Stephan Eisel, ehemalige Bundestagsabgeordnete und kreuz.-und-quer.de-Chefredakteur, analysiert i einem Beitrag für den Internet-Blog ohfamoos.com die politische Lage in Deutschland nach der Bundestagswahl 2017 und fordert Verantwortungsarbeit statt Farbenspiele.
Der folgende Text ist erschienen auf dem Internet-Blog ohfamoos.com am 30. November 2017 und kann hier ausgedruckt werden.
Stephan Eisel
Bunte Republik Deutschland
Die Bundestagswahlen vom 24. September 2017 haben mehr verändert als die Zusammensetzung des Parlaments: Noch nie waren im Bundestag rechts- und linksradikale Systemveränderer so stark vertreten. Jeder fünfte Wähler hat sich für AfD und Linke entschieden.
Auf diese Herausforderung reagieren die demokratischen Parteien völlig unterschiedlich und teilweise grotesk: FDP und SPD bewerben sich sogar unverhohlen um den Status einer Nichtregierungsorganisation. Zu Recht hat Bundespräsident Steinmeier deshalb daran erinnert, dass Demokratie kein unverbindliches Farbenspiel ist, sondern eine Verantwortungsgemeinschaft. Die Verfassung verweigert dem Bundestag bewusst den bequemen Weg der Selbstauflösung. Mit dem Konstrukt einer „auf Ersuchen des Bundespräsidenten“ geschäftsführenden Bundesregierung hat das Grundgesetz (Art. 69) auch für den Fall einer schwierigen Regierungsbildung Stabilitätsvorsorge getroffen.
Nach den Sondierungsgesprächen über eine Jamaika-Koalition und angesichts der Kontroversen zwischen Union und SPD vor Sondierungsgesprächen kann niemand mehr im Ernst behaupten, dass sich die Parteien zu wenig voneinander unterscheiden. Bisher durfte man allerdings davon ausgehen, dass sie sich der Wahl stellen, um ihre Programme umzusetzen, also um zu regieren. Dass es dennoch zur längsten Phase einer Regierungsbildung kommt, welche die Bundesrepublik Deutschland bisher erlebt hat, hat weniger mit Inhalten als vielmehr mit parteitaktischen Spielchen zu tun.
Der Kurs von Parteien hängt naturgemäß von ihren Mitgliedern ab. Sie bestimmen den Handlungsspielraum der von ihnen gewählten Parteiführungen und damit den Umgang mit Wahlergebnissen. Je weniger Mitglieder eine Partei hat, umso weniger ist sie in Kompromissfindung geübt. Denn auf dem Humus der Kompaktheit einer geringen Mitgliederzahl blüht die Blume der „reinen Lehre“ besonders gerne und Dogmatismus gedeiht schneller.
Rechnerisch kommen auf ein Mitglied der FDP (55.000 Mitglieder) 1120 wahlberechtigte Bürger, bei der Linken (58.000 Mitglieder) sind es 1062 Bürger pro Mitglied und bei den Grünen (61.000 Mitglieder) 1009 Bürger pro Mitglied. Am geringsten in der Bevölkerung verwurzelt ist die AfD mit gerade einmal 26.000 Mitgliedern, d. h. mit nur einem Mitglied unter 2369 Bürgern.
Im Gegensatz dazu findet sich statistisch schon unter 120 Bürgern ein CDU-Mitglied (431.000 Mitglieder ohne Bayern). Die SPD (432.000 Mitglieder mit Bayern) kommt auf 142 Bürger pro Mitglied. In Bayern erreicht die CSU (142.000 Mitglieder) mit 66 Bürgern pro Mitglied die tiefste Basisverankerung. Diese Stärke führt sie aber zugleich in Versuchung, Bundespolitik als vorwiegend bayerische Interessenvertretung zu betrachten. Je mehr sie das tut umso geringer ist ihr Einfluss außerhalb Bayerns.
Neben diesen strukturellen Unterschieden sehen sich die Parteien intern vor ganz unterschiedlichen Herausforderungen, die das Berliner Farbenspiel dominieren:
Schwarz
Die Union ist so staatstragend, dass sie in der Gefahr steht, das eigene inhaltliche Profil zu vernachlässigen. Das schlechte Ergebnis der Bundestagswahl war hier ein unübersehbares Warnzeichen. Gerade für die C-Parteien ist die Antwort auf das Warum, also die Begründung ihrer Politik, mindestens ebenso wichtig wie die Erklärung des Wie, also der Umsetzung. Das Konzept einer grundwerteorientierten Politik ist das Lebenselexier der Union und bedarf als Alleinstellungsmerkmal einer Wiederbelebung. Die Abwehr der Forderungen Anderer reicht nicht. Es geht um Führungskraft und Gestaltungswillen als zwei Seiten der gleichen Medaille. Wie am inhaltlichen Profil so muss die CDU auch an der personellen Perspektive arbeiten. Die Führungsrolle von Angela Merkel ist bei vielen Unionsanhängern unbestritten, aber zugleich stellen sich viele die Frage, was danach kommt. Deshalb ist es wichtig, bei anstehenden Personalentscheidungen wie einer Kabinettsbildung der Nach-Merkel-Generation Profilierungschancen zu geben. Nur wer sie inhaltlich nutzt und sich nicht zuerst medial selbst inszeniert, empfiehlt sich für höhere Führungsaufgaben. In der CSU ist dieser Übergang auch in seinen problematischen Dimensionen gerade anschaulich zu studieren.
Rot
Die SPD sieht sich mit einem beispiellosen Absturz in der Wählergunst konfrontiert: Von 40 Prozent auf 20 Prozent in zwanzig Jahren. In acht Bundesländern liegt sie unter 20 Prozent, in fünf ist sie nicht einmal mehr zweitstärkste Partei. Der Impuls, sich in der Opposition zu regenerieren, ist verständlich. So entstand eine Ausnahmesituation, sich sofort und – wie manche fanden – auch krampfhaft der Regierungsverantwortung zu entziehen. Dabei nimmt sich die Partei wichtiger als das Land. Und damit entlarvt sich zudem der Kern der schweren Führungskrise bei den Sozialdemokraten. Von der Hoffnung auf eine von der SPD nur geduldeten Minderheitenregierung bis zum Vorhaben sich hinter einem Mitgliederentscheid zu verstecken: Die Orientierungslosigkeit der Sozialdemokraten ist nicht zu übersehen – oder um es mit den Worten des Vorsitzenden Martin Schulz beim Juso-Bundeskongress am 25.11.2017 zu sagen: „Ich strebe keine große Koalition an. Ich strebe auch keine Minderheitsregierung an. Oder heute hat einer gesagt „Kenia“ (schwarz- grün–rot): ich strebe auch kein Kenia an. Ich strebe auch keine Neuwahlen an. Ich strebe nichts an. Was ich anstrebe: Dass wir die Wege diskutieren … „
Gelb
Die FDP soll nach dem Willen ihres alle und alles dominierenden Vorsitzenden zur „Marke“ werden. Marken sind erfolgreich, wenn sie sich gut verkaufen. So wird der Wahlerfolg zum Selbstzweck. In der Politik sind Wahlerfolge allerdings Mittel zum Zweck. Ziel ist es nicht, sich selbst möglichst gut zu verkaufen, sondern eigene Vorstellungen durchzusetzen. Dazu gehört der Kompromiss mit anderen. Wer eine Partei als Marke inszeniert macht sie zum alleinigen Fixpunkt des eigenen Handelns. Hier hat der Last-Minute-Ausstieg der FDP aus Jamaika seine tiefere Ursache. Dabei positioniert Lindner seine Partei – im Sinne des Verkaufserfolgs der „Marke“ – z. B. in der Europa- und Ausländerpolitik zwischen Union und AfD und knüpft damit an nationalliberale Traditionen der 50er Jahre an. Mit dem Erbe von Genscher und Lambsdorff hat das wenig zu tun.
Grün
Die Grünen haben sich nach der Bundestagswahl endgültig aus der babylonischen Gefangenschaft der SPD gelöst, die als Alternative zu Rotgrün nur noch den Einschluss der Linken in ein Bündnis zuließ. Die Jamaika-Sondierungen haben – wie zuvor auf Landesebene in Baden-Württemberg, Hessen und Schleswig-Holstein – gezeigt, dass inhaltlich und emotional eine Zusammenarbeit mit der Union auch unter Einschluss der CSU möglich ist. Zugleich haben die Grünen ein Maß an staatspolitischem Verantwortungsbewusstsein gezeigt, das man ihnen zuvor nicht zugetraut hat. Wenn sie auf diesem Kurs ihren Idealismus zunehmend von Dogmatismus befreien, werden sie zu den Gewinnern der Entwicklung gehören, weil sie ihre Koalitionsmöglichkeiten erhöhen.
Die eigene Befindlichkeit ist für Parteien ein legitimes Orientierungskriterium; wer sich aber von ihr dominieren lässt, vergisst, dass Partei von „pars“ kommt und “ein Teil“ vom Ganzen bedeutet. Das Grundgesetz legt klar fest: Wer sich als Parteivertreter der Wahl stellt, wird mit der Wahl als Abgeordneter „Vertreter des ganzen Volkes“ und ist der Verantwortung für das Gemeinwohl mehr verpflichtet als dem Spiel mit den Farben der Parteien. Oder um es mit den Worten von Bundespräsident Steinmeier zu sagen: „Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält.“
Dr. Stephan Eisel, Jahrgang 1955, ist Projektleiter „Internet und Demokratie“ sowie der Konrad-Adenauer-Stiftung. Eisel gehörte dem Deutschen Bundestag von 2007 bis 2009 an, war Redenschreiber und stv. Büroleiter bei Helmut Kohl und Bundesvorsitzender des RCDS. Mehr als zwanzig Jahre hat er als Delegierter die Bonner CDU, deren Vorsitzender er auch war, bei CDU-Bundesparteitagen repräsentiert. Seit 2012 ist er Chefredakteur des u. a. von Norbert Lammert und Bernhard Vogel herausgegebenen Internet-Blogs kreuz-und-quer.de