VERFASSUNG ALLER DEUTSCHEN

Hans Maier erinnert  zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes daran,  dass auch aus einer scheinbar aussichtslosen historischen Situation Wege in die Zukunft führen können und sieht darin auch eine Lehre auch die heutige Zeit.

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Hans Maier

Verfassung aller Deutschen
Das Grundgesetz wird 65 Jahre alt

Vor 65 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde in Bonn das Grundgesetz verkündet. Es war als Pro­visorium gedacht – ausdrücklich vermied man das Wort Verfassung. Dem staatlichen Leben sollte „für eine Übergangszeit eine neue Ordnung“ gegeben werden – so formulierte es die alte, 1990 neugefaßte Prä­ambel. Aber nichts ist so dauerhaft wie das Provisorische: Inzwi­schen hat das Grundgesetz – und mit ihm die Bundesrepublik Deutschland – bereits das staatliche Alter von 65 Jahren erreicht – fast das Vierfache der Jahre, die der Weimarer Re­publik vergönnt waren. Die Zweite Republik, so scheint mir, ist glücklicher als die erste. Sie lebt nicht auf großem, aber auf solidem Fuß. Sie erfreut sich breiter Zustimmung in der Öf­fentlichkeit. Das Grundgesetz ist in sechzig Jahren aus einem Provisorium zur Verfassung aller Deutschen geworden.

Neubeginn in Trümmern

Aus dem Fehlschlag der Ersten zog die Zweite Republik ihre Lehren. Von Anfang an ver­suchten die Autoren des Grundgesetzes den neuen demokratischen Staat vom verhängnis­vollen Erbe des Dritten Reiches, aber auch von den Schwächen Weimars zu befreien. Neue Akzente wurden gesetzt: im Ver­ständnis des Rechtsstaats, in der Formulierung eines demo­kratischen Minimalkonsenses, im Bekennt­nis zum parlamentarischen Regierungssystem, in der Stärkung der Exekutive. Dabei knüpfte das Grundgesetz an ältere Traditionen deutscher Geschichte an: an die durch Rechtsbindungen gedämpfte Staatsgewalt, an den Föderalis­mus als die den Deutschen geläufige regionale Form der Gewaltentei­lung, an die Überliefe­rungen des Sozialstaats, an die initiierende und gestaltende Rolle von Regierung und Ver­waltung.

Nach der Nazi-Tyrannei, dem Unrechtsstaat schlechthin, entschlossen sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes, Staat und Recht aufs engste zu verbinden, den Staat selbst auf das Recht zu gründen. Das bedeutete nicht nur, dass die Grundrechte in der Verfassung neue Bedeutung und konkrete Gel­tung erhielten und dass die rechtsprechende Gewalt auf allen Ebenen gestärkt wurde – es bedeutete vor allem, dass der Rechtsschutz im öffentli­chen Recht erweitert wurde wie nie zuvor in der deutschen Verfassungsgeschichte.

War die deutlichere Ausprägung des Rechtsstaats eine Antwort auf den NS-Staat, so zielte das Bemü­hen, den Wertkonsens zu stärken, auf die Schwächen der Weimarer Demokratie. Diese war bekannt­lich wehrlos gewesen gegenüber ihren mächtigen Feinden auf der Rech­ten und auf der Linken. Sie verfügte über keine Schutzmechanismen gegen die Gefahr der Selbstzerstörung. Geschützt war allein das formale Prinzip der Volkssouveränität. Kam das souveräne Volk zu dem Ergebnis, die Demokratie gehöre besser abgeschafft, so war da­gegen nach damaligem Verfassungsverständnis kein Kraut ge­wachsen. Und so konnte auch die Machtergreifung einer totalitären Partei in wesentlichen Punkten hinter der Fassade de­mokratischer Legalität vor sich gehen.

Von solch prinzipiellem Relativismus nahm man im Grundgesetz entschlossen Abschied. An die Stel­le eines positivistischen und formalistischen Demokratieverständnisses trat die frei­heitliche demokrati­sche Grundordnung – ein Minimalkonsens, der geeignet war, die Kämpfe und Konflikte einer pluralis­tischen Gesellschaft wirksam zu unterfangen. Mit dem Grundge­setzt schlug die Stunde der „wehrhaf­ten Demokratie“.

Ja zur Parteiendemokratie

Ein weiterer Reformakzent im Bonner Grundgesetz war die Entscheidung für die repräsenta­tive De­mokratie, den „echten“ Parlamentarismus und den Parteienstaat. Hier hat das Grund­gesetz viele Wei­marer Vorbehalte getilgt und viele Weimarer Rückzugsmöglichkeiten – etwa in eine Präsidialdemo­kratie – abgeschnitten. Die repräsentative Demokratie erscheint im Grundgesetz in reiner Form, ohne plebiszitäre Beimischungen und Vorbehalte. Dem Parla­ment werden nicht nur Öffentlichkeit und Dis­kussion als Aufgaben zugemutet, sondern auch Entscheidungen, Verantwortung für die Regierung und ihre Stabilität – und die Parteien wer­den ausdrücklich in die verfassungsmäßige Ordnung einbezogen.

Besonders auffällig ist der Unterschied zu Weimar im Bereich der Exekutive. Litt Weimar un­ter sei­nen vergleichsweise schwachen und rasch wechselnden Regierungen, so profitiert die Bundesrepublik von der Stabilität der „Kanzlerdemokratie“. Die politische Gewalt ist unab­hängiger geworden. Man kann nicht mehr einfach einen Kanzler stürzen – man muss vorher für eine geregelte Nachfolge sorgen (Konstruktives Misstrauensvotum). Die Vernetzung von Parlamentsmehrheit und Regierung nach bri­tischem Muster tut ein Übriges, um die Regie­rung aktionsfähig zu machen. Den Effekt spürt man vor allem in Krisenzeiten wie der gegen­wärtigen.

Im Lauf seiner 65jährigen Geschichte musste sich das Grundgesetz in unterschiedlichen Si­tuationen bewähren. Es musste auf technische Veränderungen reagieren, von der Luftfahrt bis zu den elektroni­schen Medien, es musste politische Lücken schließen, von der Landes­verteidigung bis zur Regelung des Notstands, es musste sich öffentlich diskutierten neuen Fragen stellen: dem Umweltschutz, den Problemen der Behinderten, der Durchsetzung der Gleichberechtigung – und nicht zuletzt den inner­staatlichen Auswirkungen der Europäischen Integration. Dass das Gefüge der Bundesrepublik Deutschland in vielfältiger Weise offen war für Kooperation, für europäische und weltweite Zusam­menarbeit, erwies sich als wichtig für die Zukunft. Der Artikel 24 des Grundgesetzes optierte aus­drücklich für die internationale Zusammenarbeit – eine Option, die seither in vielen Dimensionen, bi­lateral und multilateral, realisiert wurde.

Grundgesetz und Wiedervereinigung

Zum eindrucksvollsten Test auf die Anpassungsfähigkeit und Integrationskraft des Grundge­setzes wurde die Wiedervereinigung. Sie ging so vor sich, dass diejenigen, denen 1949 „mit­zuwirken versagt war“, 40 Jahre später als „neue Länder“ die Ordnung des Grundgesetzes übernahmen – womit der alte Artikel 23 im doppelten Sinn des Wortes „aufgehoben“ war und im Vertragsschluss des Einigungsver­trages „sterben“ konnte.

Wir Deutschen hatten – auch dank der westlichen Alliierten – nach 1945 die Chance eines Neube­ginns. Das Grundgesetz zog Lehren aus der Geschichte. Es hat sich in 65 Jahren als Charta unserer neugewonnenen Freiheit bewährt. Indem es die Macht des Staates begrenz­te und die Rechte der Bür­ger sichern half, indem es das Nicht-Strittige, den Wertkonsens hervorhob und damit dem politisch-parlamentarischen Kampf einen festen Rahmen gab, hat es der Demokratie in Deutschland eine zweite Chance eröffnet. Es hat gezeigt, dass auch aus einer scheinbar aussichtslosen historischen Situation, aus einer verworrenen und belas­teten Geschichte Wege in die Zukunft führen – eine Lehre auch die heutige Zeit.

 

Hans Maier (1931) wurde 1962 Professor für Politische Wissenschaft an der Ludwigs Maximilian Universität München und war 1970 bis 1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus sowie von 1976 bis 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1988 bis 1999 war er ordentlicher Professor für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universität München (Guardini Lehrstuhl).

 

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