GOTT IM DEMOKRATISCHEN STAAT

Norbert Lammert meint ohne Gott ist kein moderner Staat zu machen. Aber Gott macht auch keinen Staat. Eine funktionierende Demokratie hat kulturelle Wur­zeln hat, aus denen sie ihre innere Legitimation bezieht, und muss zugleich auf einer sauberen Tren­nung von Politik und Religion beruhen.

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Norbert Lammert

Gott im demokratischen Staat

Gerade am Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem wir jetzt leben, erleben wir keineswegs global einen Rückzug des Religiösen, sondern im Gegenteil eine erstaunliche Revitalisierung der Be­deutung von Religion im öffentlichen Raum. Interessanterweise ist diese weltweite Entwicklung überall stärker als in Europa. Was das Missverständnis schon fast erklärt, eine moderne Gesell­schaft sei eine nichtreligiöse Gesellschaft. Damit einher geht eine gelegentlich erschreckende In­strumentalisierung und Politisierung von Religion für nichtreligiöse Zwecke. Was immer man auch davon halten mag, es lässt jedenfalls nicht diese Schlussfolgerung zu, dass wir im 21. Jahr­hundert mit Religionen und deren Einfluss kaum noch etwas zu tun hätten.

Religion hat auch für moderne Gesellschaften eine hohe Bedeutung. Aus der richtigen Zurück­weisung fundamentalistischer Instrumentalisierung religiöser Überzeugungen für politische Zwecke darf nicht geschlussfolgert werden, dass die Religionen in modernen, demo­kratisch verfassten Gesellschaften keinen Raum haben dürfen. Gerade der liberale Staat kann nicht auf religiöse Bezüge und Begründungen verzichten. Dass haben übrigens die großen Staats­philosophen der Aufklärung besser gewusst als ihre späteren Epigonen.

Die berühmte Gretchenfrage „Heinrich, wie hältst du’s mit der Religion?“, wird heute so kaum noch gestellt. An die Stelle dieser privaten Frage sind im 21. Jahrhundert diese Fragen getreten: Wieviel Religion erträgt eine moderne, aufgeklärte und liberale Gesellschaft? Wieviel Religion braucht ein demokratisch verfasster Staat?

Politik und Religion sind zwei unterschiedliche, bedeutende, mächtige, rechtlich oder faktisch bindende Geltungsansprüche in einer Gesellschaft. Das ist vielleicht die wichtigste Gemeinsam­keit. Das eine wie das andere versteht sich nicht nur als Beitrag zu einem Dialog, sondern Politik wie Religion wollen Verbindlichkeiten. Allein aus diesem Grund können sich Politik und Religi­on nicht gleichgültig sein. Die Unterschiede sind allerdings nicht weniger bedeutsam als die Ge­meinsamkeiten. Der wichtigste Unterschied besteht in Folgendem: Religion handelt von Wahr­heit. Politik von Interesse. Die zentrale Logik, die sich aus diesem Befund ergibt, lautet: Wahr­heiten sind nicht mehrheitsfähig, Interessen nicht wahrheitsfähig.

Was können wir wissen? Was dürfen wir hoffen? Was sollen wir tun? Diese drei berühmten Fra­gen des Philosophen Immanuel Kant lassen sich abschließend nicht ohne Restzweifel beantwor­ten. Sie sind aber von vitaler, geradezu existenzieller Bedeutung. Das wiederum bedeutet: Was wir nicht wissen können, müssen wir glauben, wenn wir es für wichtig halten. Für die Entwicklung moderner politischer Systeme möchte ich gerne festhalten, dass die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Wahrheitsfrage Politik nötig und Demokratie möglich macht. Im demokratischen Verfassungsstaat gilt, was die Mehrheit ent­scheidet. Das Ergebnis ist damit übrigens nicht wahr, es gilt nur – solange eine andere Mehrheit nicht anders entscheidet.

Wenn wir uns die Frage stellen, was eine Gesellschaft im Innern zusammenhält, ist der Befund übersichtlich: Er wird durch Kultur bestimmt. Kultur verstanden als die Summe gemeinsamer Geschichte, Sprache, Traditionen, Sitten, Orientierungen, Haltungen, die in einer Gesellschaft über Jahrhunderte gewachsen sind, von Generation zu Generation vermittelt werden und von de­ren Geltung eine Gesellschaft überzeugt ist. Ohne ein Mindestmaß dieser Gemeinsamkeit ist der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht zu wahren. Die Wirtschaft hält eine Gesellschaft sicher nicht zusammen. Die Politik auch nicht. Weil sie nämlich auf diesem Mindestmaß an Überzeugungen beruht, das sie selbst nicht erzeugen kann.

Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich, dass eine funktionierende Demokratie kulturelle Wur­zeln hat, aus denen sie ihre innere Legitimation bezieht, und zugleich auf einer sauberen Tren­nung von Politik und Religion beruhen muss.

Das deutsche Grundgesetz ist bei nüchterner Betrachtung ein hochideologischer, tief religiös ge­prägter Text mit einer Serie von normativen Ansprüchen gegenüber der eigenen Gesellschaft. Bereits das in der Präambel reklamierte Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Men­schen müsste ja nicht in dieser Verfassung stehen. Es steht aber dort.

Der erste Artikel des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlicher Gewalt.“ Dies formuliert ja nicht eine empi­rische Tatsache, sondern einen normativen Anspruch. Wäre die Aufgabe einer Verfassung, histo­rische Erfahrungen zu formulieren, müsste der erste Satz lauten: „Die Würde des Menschen ist antastbar.“ Nirgendwo ist der Nachweis konsequenter erbracht worden als in der deutschen Ge­schichte. Und weil das so ist, schreiben wir den gegenteiligen Anspruch an die Spitze unserer Verfassung. Dies ist Ausdruck einer über Jahrhunderte gewachsenen Überzeugung, die sich ohne den Zusammenhang zwischen religiösen und kulturellen Traditionen nicht verstehen ließe.

Fast alle wirklich spannenden Fragen der Politik in der Gegenwart erweisen sich als in hohem Maße ethisch relevant. Etwa alle Fragen, die mit Beginn und Ende des menschlichen Lebens zu­sammenhängen. Ob man das Zustandekommen von menschlichem Leben auch künstlich ermög­lichen soll, ist keine technische Frage mehr, sondern eine ethische, die unter dem Gesichtspunkt nicht nur individueller, sondern gesamtgesellschaftlicher Geltungsansprüche politisch entschie­den werden muss.

Da sind wir wieder bei der Ambivalenz von Wahrheitsansprüchen und Mehrheitsentscheidungen, wobei die Logik einer demokratischen Entscheidung auf der Einsicht beruht, dass sich die Wahr­heitsfrage gesamtgesellschaftlich nicht abschließend beantworten lässt.

Was bedeutet das für die Frage nach der Bedeutung des Glaubens in einer säkularen Gesell­schaft? Knapp formuliert: Ohne Gott ist kein Staat zu machen, auch kein moderner Staat. Schon gar kein moderner Staat. Aber Gott macht keinen Staat. Das müssen wir selber tun. In Verant­wortung vor Gott und den Menschen.

 

Norbert Lammert (1948) gehört seit 1980 dem Deutschen Bundestag an und ist seit 2005 dessen Prä­sident. Von 1989 – 1998 war er Parlamentarischer Staatsekretär in den Bundesministerien für Bil­dung und Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr und danach bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 2002 wurde er Vizepräsident des Deutschen Bundesta­ges, seit 2001 ist er stv. Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er ist Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de

 

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