Ukraine: Mit dem Mut der Verzweiflung

Prof. Dr. Heinz-Gerhard Justenhoven

„Sind wir im falschen Film?“ So fragen sich seit der vergangenen Woche Bürger, Politiker und Experten. Eine überwältigende Militärmacht überfällt ihr Nachbarland, weil es dieses eigentlich nicht geben soll!? So lässt sich Wladimir Putins Legitimationsversuch auf den Punkt bringen. Eigentlich hat Putin eine ganze Reihe von anscheinend unzusammenhängenden Aspekten genannt, mit denen er seinen Befehl zum Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen versuchte. Aber der Reihe nach: Der russische Einmarsch in die Ukraine ist eine militärische Aggression und ein offenkundiger Bruch internationalen Rechts! Die verbindliche Festlegung aller UN-Mitglieder, ihre politischen Streitigkeiten friedlich zu lösen, war eine zivilisatorische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Nun greift Putin zu überkommen geglaubter Machtpolitik des 19. Jahrhunderts. Es rächt sich nun allerdings auch, dass gerade große Mächte in den vergangenen Jahrzehnten das Gewaltverbot mitunter großzügig ausgelegt haben; es gilt ausschließlich und für alle. Nachdem der UN-Sicherheitsrat einmal mehr durch das – diesmal russische – Veto blockiert ist, wird die UN-Generalversammlung diesen Bruch des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit aller Voraussicht nach entsprechend UN-Charta Art. 11 verurteilen.

Was treibt Putin an und wie weit wird er gehen? Die größte Gefahr für das Regime im Kreml ist von den Farbenrevolutionen ausgegangen. Genauso wie in Polen, Ungarn oder dem Baltikum haben sich die Ukrainer/innen in ihrer „Revolution der Würde“ von der Bevormundung durch den postsowjetischen Obrigkeitsstaat befreit und beansprucht, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen: individuell wie politisch. Selbstbestimmung, Autonomie betrifft die Entscheidung über das eigene Leben wie das Mitspracherecht über die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Der Euromaidan war die Absage an die ideologisch entleerte postsowjetische Diktatur, deren einziger Zweck die Bereicherung einer kleinen Clique in Minsk und Moskau ist, wie Alexei Nawalny immer wieder aufgedeckt hat.

Die europäischen Gesellschaften konnten nicht anders, als die ukrainische Zivilgesellschaft in diesem Prozess der Selbstbefreiung aus der Diktatur und dem Streben nach Freiheit zu unterstützen. Insofern hat Putin recht gehabt mit seiner Klage, dass wir uns eingemischt haben. Sollten wir denn achselzuckend wegschauen – natürlich nicht! Das Recht auf individuelle und politische Selbstbestimmung als Kern des Freiheitsrechts gilt für alle Menschen weltweit. Politisch unklug war, die Bedeutung dieses Prozesses als existentielle Gefahr für die Autokratie im Kreml nicht antizipiert zu haben. Im Gegenteil ist insbesondere durch die US-Regierungen schon früh eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ins Spiel gebracht worden, die die Bedrohungswahrnehmung durch Moskau nur noch erhöht hat. Bei aller Berechtigung der Ukraine, frei zu wählen, welchem Bündnis sie sich anschließen will, ist es politisch unklug, die absehbaren Folgen nicht in Rechnung zu stellen. Putins Warnung an den Westen 2007, sich nicht mehr sicher zu fühlen, ist zumindest in Deutschland weitgehend folgenlos geblieben. Dabei lasse ich völlig offen, welche politischen Konsequenzen hätten gezogen werden müssen.

Heute wehren sich die Bürger und Bürgerinnen der Ukraine mit dem Mut der Verzweifelten. Zivilisten bilden Bürgerwehren, Dorfbewohner stellen sich russischen Panzern in den Weg, Frauen bauen Molotowcocktails, ukrainische Soldaten werfen ihr Leben in die Waagschale. Das Ziel eines schnellen militärischen Sieges und Sturzes der Regierung von Präsident Selenskji ist nicht erreicht. Aktuell führt die russische Armee enorme Mengen an Truppen und Material herbei, so dass Erinnerungen an den Tschetschenienkrieg wach werden: Städte und Dörfer sind in Schutt und Asche gelegt worden.

In Deutschland ist zu lange diskutiert worden, zu welcher Hilfe wir verpflichtet sind. Nothilfe für Flüchtende und medizinische Hilfe, darauf konnten wir uns schnell verständigen. Aber, so habe ich mich in den letzten Wochen gefragt, wollen wir ernsthaft warten, bis Ukrainer und Ukrainerinnen verletzt worden sind, um ihnen dann medizinische Hilfe anzubieten – die Mittel zur Verteidigung, damit es dazu nicht kommt, aber verwehren? Das Recht auf Selbstverteidigung gegen ungerechte Gewalt verpflichtet den, der dabei steht, zu der Hilfe, die er/sie leisten kann. Die Ukrainer haben also ein Recht darauf, in ihrer Verteidigung unterstützt zu werden. Welche Mittel das sind und wie weit diese Hilfe gehen muss, ist einerseits eine Frage des Könnens: Welche Hilfe können wir leisten? Und zweitens darf der Schaden durch die Gewalt nicht größer werden, als er ohnehin ist. Hier ist kluge Politik gefragt, eine Eskalation in einen noch größeren Krieg zu verhindern. Dies darf aber nicht zum Argument für Nichthandeln werden. Die Bundesregierung, der Bundestag haben diese Kurve am Sonntag gerade noch bekommen.


Foto: Doreen Bierdel

Heinz-Gerhard Justenhoven (geboren 1958), Studium der katholische Theologie und Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main und Marquette University in Milwaukee, USA. 1990 Promotion zum Dr. theol. mit einer Arbeit über die Friedensethik des Francisco de Vitoria. 2006 Habilitation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br., dort seit 2010 apl. Professor am Lehrstuhl für Moraltheologie. Seit 1995 Direktor des Instituts für Theologie und Frieden (ithf) in Hamburg.

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