Nadine Schön beschreibt wie sich Deutschland modernisieren muss und fordert ein Modernisierungsjahrzehnt, in dem Staat Vorbild für Innovationen ist.
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Nadine Schön
Wir brauchen einen Neustaat!
Wie sich Deutschland modernisieren muss
Politik und Staat stoßen angesichts wachsender Herausforderungen und immer größerer Dynamik zunehmend an ihre Grenzen: Prozesse und Abstimmungen dauern zu lange, es wird zu wenig ausprobiert oder über den eigenen Tellerrand hinausgeschaut. Die Handlungsfähigkeit reicht nicht aus, gleichzeitig berichten über drei Viertel der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes von steigendem Druck und Belastung. Der Staat steckt in einer Komplexitätsfalle fest. Der Handlungsbedarf ist groß. Mit dem Projekt Neustaat wollen wir daran etwas ändern.
Für uns ist klar: Der Staat muss zum Innovationstreiber werden. Der Verwaltung kommt dabei eine ganz entscheidende Rolle zu. Ohne eine umfassende Verwaltungsmodernisierung einhergehend mit einem tiefgreifenden Wandel unserer Verwaltungskultur, wird der Staat diese neue Rolle nicht ausfüllen können. Es braucht neue Strukturen, es braucht einen „Neustaat“.
Der Lernende Staat
Nur selten sind Verwaltungen in der Lage, neue Lösungen für Herausforderungen zu entwickeln und umzusetzen. Grund hierfür sind die eigenen Verfahren und Prozesse, die in einen oftmals eng definierten rechtlichen Rahmen eingebettet sind und deshalb wenig Spielraum lassen für neue Wege oder Lösungen. Eine Verwaltung, die es gewohnt ist, in festen Zuständigkeiten zu denken und zu handeln, geordnet in einer klaren Hierarchie, tut sich damit naturgemäß sehr schwer. Sie muss ihre starren Prozesse erst darauf auslegen, dass neue Impulse von außen aufgenommen werden können. Mit anderen Worten: Sie muss agiler werden.
Es brauch hierfür neue Prozesse, um das Silodenken der Ressorts und der föderalen Bereiche aufzubrechen und besser zu verknüpfen. Das Ziel ist dabei ein Staat, der Rahmenbedingungen schafft und selbst innovative Konzepte testet. Wir müssen nicht für jedes Problem eine eigene Lösung finden, aber offen genug sein, gute Lösungen schnell und unkompliziert in die Anwendungen zu bringen.
Doch das ist leichter gesagt als getan. Unsere Verwaltung in Deutschland basiert auf dem gut 200 Jahre alten preußischen Verwaltungsmodell. Dieses Modell zeichnet sich vor allem durch seine legalistische Verwaltungskultur aus. Das starre Festhalten an klar definierten Zuständigkeiten, Vorschriften und eingefahrenen Prozessen kennzeichnen diese Kultur und machen zugleich deutlich, weshalb wir einen Kulturwandel in der Verwaltung so dringend brauchen.
Ein solcher Kulturwandel vollzieht sich allerdings nicht auf Knopfdruck. Er entsteht durch viele kleine oder große Verhaltensänderungen von vielen Menschen in vielen Institutionen. Diese Verhaltensänderungen lassen sich weder von einem Dienstherren befehlen, noch von der Politik verordnen. Aber die Politik kann Kulturwandel befördern – durch Regeln und Maßnahmen, durch Vorbilder und Anreizsysteme.
So ist es in der deutschen Verwaltung bisher zumeist ein viel geringeres Risiko etwas zu unterlassen, als etwas zu unternehmen, deshalb muss neben verstärkter Projektarbeit, auch eine neue Fehlerkultur Einzug in die Verwaltung halten. Denn wo Risikominimierung über allem steht, ist am Ende kein Platz mehr für pragmatische Lösungen. Die Vorsicht, keine Risiken einzugehen, hat dabei auch rechtliche Hintergründe, denn für Beamte besteht die Pflicht zur „Remonstration“, also die Pflicht, ihre dienstlichen Handlungen auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen und Bedenken oder Einwände beim Vorgesetzten vorzubringen. Eine neue Fehlerkultur muss darüber hinaus gelebt werden und fängt bei den Führungskräften an. Wir brauchen den Mut, Konzepte zu testen. Nur wer sich traut, Neues anzugehen, kann vorankommen. In Zeiten großer Veränderungsgeschwindigkeiten sind Absicherungen nach allen Seiten und der Weg des geringsten Risikos die falschen Modelle. Wir brauchen einen staatlichen „Mutanfall“.
Open Innovation
Um Innovationsmotor zu werden, muss sich die Verwaltung auch für Input von außen öffnen und aktiv dabei helfen, die großen Innovationspotenziale zu heben. Zu oft verengen wir politisch den Blick auf eine einzige Lösung, statt große Lösungsräume zu öffnen und dort das am besten funktionierende Modell zu erproben. Ein solcher Ansatz ist „open social innovation“. Der Staat findet in Kooperation mit Bürgerinnen und Bürgern und Wirtschaft neue Lösungsansätze für technische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Probleme.
Am Beispiel des Hackathons #wirvsvirus lässt sich das gut veranschaulichen. Dabei wurde unter der Schirmherrschaft der Bundesregierung eine breit angelegte Beteiligungsmöglichkeit für alle diejenigen geschaffen, die mithelfen wollen neue Lösungen zur Pandemiebekämpfung zu entwickeln. Über 28.000 Teilnehmer haben an rund 1500 Lösungen gearbeitet. Mit dem anschließenden Umsetzungsprogramm wurden dann rund 150 Projekte realisiert. Zu den prominentesten und erfolgreichsten Projekten gehört etwa die Coronaschool, die neue Lösungen für den digitalen Distanzunterricht anbietet oder der Chatbot UDO, der von der Bundesagentur für Arbeit eingesetzt wird, um Antragsteller die wichtigsten Fragen zum Kurzarbeitergeld zu beantworten.
Diese Beispiele zeigen, wohin die Reise gehen soll: Der Staat beschreibt Probleme in seiner Arbeit und definiert Anforderungen sowie eine einheitliche Schnittstelle, über die dann Lösungen aus Gesellschaft und Wirtschaft im Wettbewerb zueinander entwickelt werden können.
Weniger Silo-Denken, weniger Hierarchie, dafür mehr Projektarbeit und ein besserer, pragmatischerer Umgang mit Fehlern: wenn uns dieser Kulturwandel in der Verwaltung gelingt, sind wir auf einem guten Weg hin zur agilen Verwaltung und zum lernenden Staat, der Open Innovation Prozesse nicht nur anstoßen kann, sondern auch die dadurch entwickelten Lösungen erfolgreich implementieren kann. Erst dadurch wird der Staat in die Lage versetzt, sich selbst zu erneuern und anschließend auch erfolgreich als Innovationstreiber zu fungieren.
Viele kleine Maßnahmen machen dabei gemeinsam den großen Wurf: Diese Vorschläge und Ideen sind nur ein kleiner Auszug eines Gesamtkonzepts für eine moderne, digitale Verwaltung, das ich im Juni letzten Jahres mit meinem Abgeordnetenkollegen Thomas Heilmann und weiteren Co-Autoren vorgelegt habe. Wir nennen es „Neustaat“ und es besteht aus 103 Vorschlägen, die die „Jahrhundertreform“, wie sie unser Fraktionsvorsitzender Ralph Brinkhaus neulich gefordert hat, mit Leben füllen. Für mich steht fest: wir brauchen den Neustaat! Das kommende Jahrzehnt muss ein Modernisierungsjahrzehnt werden. Will der Staat Innovationstreiber sein, muss er bei sich selbst anfangen!
Nadine Schön (1983), MdB, ist als stellvertretende Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Themenfelder Digitalisierung sowie Familie, Senioren, Frauen und Jugend verantwortlich. Gemeinsam mit Thomas Heilmann und weiteren Co-Autoren hat sie in ihrem Buch „NeuStaat“ Vorschläge zur Modernisierung von Politik und Verwaltung vorgelegt.“