GRUNDGESETZ UND FÖDERALES SYSTEM

Tobias Hans sieht zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes im dort verankerten Föderalismus die Verwirklichung jenes Subsidiaritätsprinzips, das der jeweils kleineren sozialen Einheit ein Höchstmaß an Autonomie zukommen lässt.

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Tobias Hans

Grundgesetz und föderales System

Bereits vor Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 hatten die alliierten Siegermächte in ihren Besatzungszonen ab dem Jahr 1946 die Länder geschaffen. Nachdem klar wurde, dass es zwischen der Sowjetunion und den drei Westalliierten zu keiner Einigung bezüglich der Zukunft Deutschlands kommen würde, empfahlen die westlichen Militärgouverneure die Errichtung eines Staates mit einer föderalistischen Ordnung ausgehend von den Ländern. Der Parlamentarische Rat nahm diese Empfehlung bei der Abfassung des Grundgesetzes auf und formulierte in Art. 20: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“

Diese Festschreibung des Föderalismus im Grundgesetz war eine Antwort auf den nationalsozialistischen Zentralismus. Neben der klassischen Form der Gewaltenteilung auf horizontaler Ebene sollte auf vertikaler Ebene eine zusätzliche Gewaltenteilung jede Art der Machakkumulation ausschließen. Diese Form der föderalen Gewaltenteilung hat sich bewährt. Als gelebte Subsidiarität hat der Föderalismus zur demokratischen Konsensfindung beigetragen. Als gelebte Vielfalt hat der Föderalismus unsere Kulturlandschaft bereichert und vitalisiert. Als Innovationstreiber hat er best-practice-Modelle in einzelnen Bundesländern ermöglicht. Als Bewahrer und Förderer von regionaler Identität hat der Föderalismus wesentliches zum friedlichen Zusammenleben unseres 80-Millionen-Volkes beigetragen. Schließlich hat er sich als tauglich erwiesen, zunächst im Jahre 1957 die „kleine Wiedervereinigung“ mit dem Saarland und 1990 die „große Wiedervereinigung“ zu vollziehen. Dabei ist auch nicht die DDR, sondern sind die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen der Bundesrepublik beigetreten. Die Wiedervereinigung war ein Akt des bundesdeutschen Föderalismus.

Die siebzig Jahre, die das Grundgesetz nun mehr in Kraft ist, umfassen nahezu die gleiche Zeitspanne, wie sie das Deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich zusammen einnahmen. Diese siebzig Jahre übertreffen auch bei weitem jede andere Verfassungsordnung auf deutschem Boden seit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806. Die Bundesrepublik ist damit das erfolgreichste Staatswesen, das die Deutschen in den letzten zweihundert Jahren hervorbrachten. Ununterbrochen lebten die Menschen in Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand.

Hierzu hat ganz gewiss auch der bundesdeutsche Föderalismus beigetragen, indem er stets bundesstaatliche und landesspezifische Interessen auszugleichen wusste. Und entgegen mancher Kritik bewies er, wenn es darauf ankam, Flexibilität und unmittelbare Handlungsfähigkeit. So zum Beispiel während der globalen Finanzkrise 2008/2009, als innerhalb nur weniger Tage ein milliardenschweres Konjunkturpaket des Bundes von Bundestag und Bundesrat verabschiedet und in nur wenigen Wochen durch die Länder vor Ort umgesetzt wurde, und zwar mit großem Erfolg, wie sich dann zeigte. Denn keiner der anderen EU-Mitgliedstaaten, insbesondere nicht die zentralistisch verfassten Staaten, sind vor zehn Jahren besser durch diese Krise gekommen als die Bundesrepublik.

Der bundesdeutsche Föderalismus hat aber nicht nur seine Leistungsfähigkeit bewiesen, wenn es darauf ankam. Er hat darüber hinaus auch gezeigt, dass er aus sich heraus reformfähig ist. So gelang es ihm mit der Föderalismusreform I, die bundesdeutsche Gesetzgebung deutlich zu entflechten, indem die Zahl der im Bundesrat zustimmungspflichtigen Gesetze erheblich reduziert und den Ländern eine Reihe von Kompetenzen in eigener Verantwortung übertragen wurde. In der Föderalismusreform II gelang der europaweit einzigartige Akt, eine für Bund und Länder verbindliche Schuldenbremse festzulegen und damit erstmalig einen Weg heraus aus der Schuldenspirale zu weisen.

Kennzeichnend für unser föderales System ist das ausgewogene Verhältnis zwischen Solidar- und Wettbewerbsföderalismus. Es gründet auf dem Auftrag des Grundgesetzes an den bundesdeutschen Föderalismus zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Art. 72), beziehungsweise sogar zur Wahrung der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 106). Ein allzu starkes Auseinanderdriften in Armuts- und Reichtumszonen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland widerspricht mithin dem bündischen Prinzip. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht in einschlägigen Urteilen immer wieder klargestellt, dass dies nicht eine finanzielle Gleichstellung der Länder bedeutet kann, sondern vielmehr eine hinreichende Annährung ihrer Finanzkraft zur Wahrnehmung der ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben. Eigenverantwortung und bündische Mitverantwortung müssen von daher immer in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, so dass man durchaus von einem dynamischen Antagonismus zwischen Solidar- und Wettbewerbsföderalismus sprechen kann.

Föderalismus ist allerdings nicht nur eine Frage der Ökonomie. Föderalismus ist und bleibt in Deutschland auch eine Frage der historisch gewachsenen Identität. Insbesondere die Kulturhoheit der Länder hat erheblich zur Stabilität unseres politischen Systems beigetragen. Darüber wird man sich spätestens dann bewusst, wenn man sich die Konflikte etwa in Spanien mit den Basken und Katalanen, in Frankreich mit den Bretonen und Korsen und in Italien den Nord-Süd-Konflikt betrachtet. Selbst jahrzehntelange Bemühungen um mehr Dezentralität in diesen Ländern reichen nicht hin, um dem erkennbaren Bedürfnis nach regionaler Eigenverantwortung und regionaler Identität nachhaltig gerecht zu werden.

Für uns ist der Föderalismus die Konsequenz aus unserem Menschen- und Gesellschaftsbild. Er ist die Verwirklichung jenes Subsidiaritätsprinzips, das der jeweils kleineren sozialen Einheit ein Höchstmaß an Autonomie zukommen lässt. Dafür steht bis heute der im Grundgesetz verankerte bundesdeutsche Föderalismus. Er ist und bleibt das Zukunftsmodell für die staatliche Ordnung in Deutschland.

Tobias Hans (1978) ist seit dem 1. März 2018 Ministerpräsident des Saarlandes. Zuvor bekleidete er das Amt des Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Landtag des Saarlandes. In den Landtag wurde er im Jahre 2009 gewählt. Tobias Hans ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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