Stephan Eisel beschreibt den trotz massiver Grundrechtseinschränkungen knappen Ausgang des türkischen Verfassungsreferendums und fordert Konsequenzen im Verhältnis EU-Türkei.
Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.
Stephan Eisel
Erdogans Abschied von Europa
Zum Verfassungsreferendum in der Türkei
Das Referendum zur türkischen Verfassung hat nach der Brexit-Abstimmung einmal mehr die Problematik plebiszitärer Verfahren verdeutlicht und die Weisheit des deutschen Grundgesetzes unterstrichen, solche grundlegenden Entscheidungen an parlamentarische Verfahren und eine 2/3-Mehrheit zu binden. Umso mehr gilt es, bei der Bewertung der (vorläufigen) Ergebnisse des türkischen Verfassungsreferendums Pauschalurteile zu vermeiden: Weder können DIE Amerikaner für Trump, DIE Russen für Putin noch DIE Türken für Erdogan verantwortlich gemacht werden.
Auch wenn das Ergebnis mit 51,4% JA-Stimmen gegenüber 48,6% NEIN-Stimmen für Präsident Erdogan nur ein äußerst knapper Erfolg ist, gegen den es zudem noch schlüssige Wahlanfechtungen gibt, kann es vor allem im Blick auf das Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union über die weitreichenden Folgen des türkischen Referendums keine Zweifel geben:
1) Das Referendum über die Änderung der türkischen Verfassung vom 16. April 2017 zugunsten eines autoritären Präsidialsystems fand unter Umständen statt, die Maßstäben für eine demokratische Abstimmung in keiner Weise entsprachen: Das Parlament wurde durch die Inhaftierung zahlreicher Abgeordneter entmündigt, die Pressefreiheit war durch die staatliche Kontrolle zuvor unabhängiger Medien und die Inhaftierung zahlreicher Journalisten nicht mehr gewährleistet, der massive Einsatz staatlicher Medien als einseitiges Propagandainstrument verhinderte den fairen Austausch von Argumenten. Massenentlassungen und Enteignungen tausender tatsächlicher oder vermeintlicher Oppositioneller verbreiteten Angst und Schrecken, und noch am Wahltag wurden wesentliche Abstimmungsregeln geändert, indem man unautorisierte Stimmzettel entgegen der ursprünglichen Bestimmungen doch zur Auszählung zuließ.
2) Beim Verfassungsreferendum entschieden die Wähler, ob die türkische Verfassung zugunsten einer Bündelung der Macht beim Präsidenten geändert werden soll. Da dafür im Parlament keine Zweidrittelmehrheit erreicht wurde, war eine Volksabstimmung erforderlich. Mit der Verfassungsänderung wird der Ministerrat mit dem Ministerpräsidenten abgeschafft und die entsprechenden Befugnisse werden dem Präsidenten übertragen. Der Präsident ernennt und entlässt Minister sowie seine Stellvertreter ohne Mitwirkung des Parlaments. Er kann das Parlament auflösen, die Wahlen zum Parlament und die Präsidentschaftswahlen müssen am gleichen Tag stattfinden und der Präsident kann dabei als Parteichef agieren. Die Zusammensetzung des in der türkischen Gerichtsbarkeit u. a. für Personalfragen zuständigen „Rats der Richter und Staatsanwälte“ wird nunmehr wesentlich vom Präsidenten bestimmt. In einer Stellungnahme vom 10. März 2017 hat die Venedig-Kommission des Europarates vor einem „Ein-Personen-Regime“ durch die neue Verfassung gewarnt: Ohne Kontrollinstanzen handele es sich nicht um ein präsidentielles System, das demokratischen Maßstäben entspreche, vielmehr sei die Gefahr der Entwicklung zu einem autoritären System gegeben.
3) Dass Erdogan mit seinem Kurs der Abkehr von der europäischen Werteordnung trotz des geballten Einsatzes der staatlichen Propagandamaschine und massiver Grundrechtseinschränkungen nur eine äußerst knappe Mehrheit für die Änderung der Verfassung erzielt hat, zeigt, dass er keineswegs für alle Türken spricht. Das knappe Ergebnis zeigt, dass Erdogan unter demokratischen Voraussetzungen die Abstimmung wohl verloren hätte. Aber auch mit einer manipulierten und knappen Mehrheit kann er seinen autokratischen, anti-demokratischen Kurs fortsetzen.
4) Das Abstimmungsergebnis zeigt, dass die Türkei ein gespaltenes Land ist: In den wirtschaftlich florierenden Metropolen und Regionen sowie an der Mittelmeer- und Ägäis-Küste dominiert das NEIN, in den strukturschwachen ländlichen Räumen Anatoliens gewann Erdogan.
5) Die Zustimmung zur Verfassungsänderung fällt in der Türkei mit 51,2 % knapper aus als bei den Auslandstürken mit 59 %. Andererseits lag die Beteiligung in der Türkei mit 86 % deutlich höher als im Ausland (z.B. 50 % in Deutschland). Abstimmungsberechtigt waren dabei natürlich nur die türkischstämmigen Bürger, die auch einen türkischen Pass besitzen. In Deutschland sind das etwa 1,5 Millionen der insgesamt ca. 3,5 Millionen türkischstämmigen Bürger. Im Unterschied zur Türkei selbst, gaben offenbar viele Auslandstürken, die die Verfassungsreform ablehnen, gerade in Deutschland ihre Stimme nicht ab, während Erdogan gerade hier seine Anhänger mobilisiert hat. Anders als in der Türkei, wo die Bürger in den drei größten Städten Istanbul, Ankara und Izmir die Verfassungsänderung ablehnten, stimmten die in Deutschland lebenden Türken – soweit sie ihre Stimme abgegeben haben – in allen 13 Städten mit Abstimmungsmöglichkeit für Erdogans Projekt. Ganz anders hingegen die Türken in Nordamerika und in den Golfstaaten: In Chicago, New York, Boston, Miami und Los Angeles erhielt das NEIN mehr als 80 %, in den Vereinigten Arabischen Emiraten 81 %, in Bahrein sogar 86 %. Wir müssen uns offenbar in Deutschland mit der Demokratiedistanz der hier lebenden Erdogan-Anhänger offensiver auseinandersetzen.
6) So zweifelhaft das Ergebnis des Referendums unter demokratischen Maßstäben ist, so unzweideutig will es Präsident Erdogan zur Fortsetzung seines nationalistischen und autokratischen Kurses nutzen. Das erfordert eine klare Antwort der EU, die nur im Ende der EU-Beitrittsverhandlungen bestehen kann. Angesichts der vielfältigen gemeinsamen Interessen, die sich wie zum Beispiel auch bei Russland aus der unmittelbaren Nachbarschaft ergeben, sollte die EU der Türkei durchaus das Angebot einer „privilegierten Partnerschaft“ machen. Dabei spielt zwar die demokratische Ausrichtung eines Landes auch eine Rolle, muss aber nicht im Zentrum stehen. Abgesehen von der grundsätzlichen Frage, ob die Türkei im Sinne der Beitrittskriterien überhaupt ein europäisches Land ist, hat sich Präsident Erdogan mit seiner Politik längst von europäischen demokratischen Werten abgewandt. Das Verfassungsreferendum ermöglicht es ihm, diesen Weg fortzusetzen. Es ist an der Zeit, dass die EU insgesamt daraus die Konsequenz des Endes der Beitrittsverhandlungen zieht, wie es das Europäische Parlament schon seit einiger Zeit verlangt.
Dr. Stephan Eisel (1955) war als Mitglied des Deutschen Bundestages bis 2009 Mitglied im Europaausschuss und u. a. 1983- 1992 zunächst als Redenschreiber und dann als stv. Leiter des Kanzlerbüros Mitarbeiter von Helmut Kohl. Seit 2010 ist er in der Konrad-Adenauer-Stiftung Projektleiter für „Internet und Demokratie“ sowie „Bürgerbeteiligung“. Er ist verantwortlicher Redakteur des Blogs für politisches Handeln aus christlicher Verantwortung kreuz-und -quer.de