Zum 60. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge forderte Papst Franziskus am 24. März 2017 die Staats- und Regierungschefs von 27 EU-Ländern in einer Ansprache auf, „wieder europäisch zu denken, um die gegensätzliche Gefahr einer grauen Uniformität oder des Triumphs der Partikularismen abzuwehren“ Er sagte: „Europa findet wieder Hoffnung in der Solidarität, die auch das wirksamste Heilmittel gegen die modernen Formen des Populismus ist. Solidarität ist nicht nur ein guter Vorsatz: Sie ist gekennzeichnet durch konkrete Taten und Handlungen, die einem den Mitmenschen näher bringen unabhängig von seiner momentanen Lage. Die Formen des Populismus hingegen sind eben Blüten des Egoismus, der in einen engen und erdrückenden Kreis einschließt und nicht zulässt, die Enge der eigenen Gedanken zu überwinden und darüber hinaus zu sehen.“Die vollständige Rede von Papst Franziskus an die Staats- und Regierungschefs von 27 EU-Ländern m 24. März 2017 finden Sie hier.
Unter anderem sagte der Papst:
„Die Gründerväter erinnern uns daran, dass Europa nicht eine Summe von einzuhaltenden Regeln, nicht ein Handbuch von zu befolgenden Protokollen und Verfahrensweisen ist. Es ist ein Leben; eine Art, den Menschen ausgehend von seiner transzendenten und unveräußerlichen Würde zu begreifen und nicht nur als eine Gesamtheit von zu verteidigenden Rechten oder einzufordernden Ansprüchen. … Von Anfang an war klar, dass das pulsierende Herz des politischen Projekts Europa nur der Mensch sein konnte.“
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„In einer Welt, der das Drama der Mauern und Teilungen wohl vertraut war, war man sich der Bedeutung überaus bewusst, für ein geeintes und offenes Europa zu arbeiten, und man hatte den gemeinsamen Willen, sich für die Beseitigung jener unnatürlichen Schranke einzusetzen, die von der Ostsee bis zur Adria den Kontinent teilte. So viele Mühen hat man aufgewendet, um jene Mauer zu Fall zu bringen! Und doch ist heute die Erinnerung an die Mühen verloren gegangen. Ebenso ist das Bewusstsein des Dramas getrennter Familien, von Armut und Elend, die jene Teilung hervorrief, abhandengekommen. Dort, wo Generationen sich sehnlichst wünschten, die Symbole einer aufgezwungenen Feindschaft fallen zu sehen, diskutiert man heute, wie man die jetzigen „Gefahren“ fernhalten kann: angefangen von dem langen Treck von Frauen, Männern und Kindern, die auf der Flucht vor Krieg und Armut sind und nur um die Möglichkeit einer Zukunft für sich und die ihnen nahestehenden Personen bitten.“
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„In den letzten sechzig Jahren hat sich die Welt sehr verändert. Wenn die Gründerväter, die einen verheerenden Konflikt überlebt hatten, von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft beseelt und von dem Willen bestimmt waren, diese zu verfolgen, indem sie das Aufkommen neuer Konflikte zu verhindern suchten, so wird unsere Zeit mehr von der Vorstellung der Krise beherrscht. Es gibt die Wirtschaftskrise, die das letzte Jahrzehnt gekennzeichnet hat, es gibt die Krise der Familie und von gefestigten gesellschaftlichen Formen, es gibt eine verbreitete „Krise der Institutionen“ und die Flüchtlingskrise: viele Krisen, welche die Angst und die tiefe Verwirrung des heutigen Menschen verbergen, der nach einer neuen Hermeneutik für die Zukunft verlangen. … Die Antworten finden wir eben genau in den Pfeilern, auf denen sie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft errichten wollten und an die ich schon erinnert habe: die Zentralität des Menschen, eine tatkräftige Solidarität, die Offenheit für die Welt, das Verfolgen des Friedens und der Entwicklung, die Offenheit für die Zukunft. Es ist Aufgabe der Regierenden, die Straßen der Hoffnung zu erkennen, die konkreten Pfade ausfindig zu machen, damit die bisher vollbrachten bedeutenden Schritte sich nicht zerstreuen, sondern Unterpfand eines langen und fruchtbaren Weges werden. Europa findet wieder Hoffnung, wenn der Mensch die Mitte und das Herz seiner Institutionen ist.“
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„Europa findet wieder Hoffnung in der Solidarität, die auch das wirksamste Heilmittel gegen die modernen Formen des Populismus ist. Die Solidarität bringt das Bewusstsein mit sich, Teil eines einzigen Körpers zu sein, und schließt gleichzeitig die Fähigkeit eines jeden Gliedes mit ein, mit dem anderen und dem Ganzen zu „sympathisieren“. Wenn einer leidet, leiden alle (vgl. 1 Kor 12,26). So betrauern auch wir heute zusammen mit dem Vereinigten Königreich die Opfer des Attentats in London vor zwei Tagen. Die Solidarität ist nicht ein guter Vorsatz: Sie ist gekennzeichnet durch konkrete Taten und Handlungen, die einem den Mitmenschen näher bringen unabhängig von seiner momentanen Lage. Die Formen von Populismus hingegen sind eben Blüten des Egoismus, der in einen engen und erdrückenden Kreis einschließt und nicht zulässt, die Enge der eigenen Gedanken zu überwinden und darüber hinaus zu sehen. Man muss wieder beginnen, europäisch zu denken, um die gegensätzliche Gefahr einer grauen Uniformität oder des Triumphs der Partikularismen abzuwehren. Eine solche Führungsrolle der Ideen ist Sache der Politik; diese soll vermeiden, Emotionen auszunutzen, um Zustimmung zu gewinnen, sondern vielmehr im Geist der Solidarität und Subsidiarität politische Handlungsweisen erarbeiten, welche die gesamte Union in einer harmonischen Entwicklung wachsen lassen. So mag, wer schneller zu laufen fähig ist, dem langsameren die Hand reichen, und wer mehr Mühe hat, sei bestrebt, den an der Spitze zu erreichen.“
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„Welche Kultur bietet Europa heute an? Die Angst, die man häufig wahrnimmt, findet nämlich ihren tieferen Grund im Verlust der Ideale. Ohne eine echte Perspektive der Ideen wird man am Ende von der Angst beherrscht, dass der andere uns aus den festen Gewohnheiten herausreißt, uns die erworbenen Annehmlichkeiten nimmt, auf gewisse Weise einen Lebensstil in Frage stellt, der allzu oft nur aus materiellem Wohlstand besteht. Der Reichtum Europas ist hingegen immer seine geistige Offenheit gewesen und die Fähigkeit, sich grundlegende Fragen über den Sinn des Daseins zu stellen. Der Offenheit für den Sinn des Ewigen entspricht zudem eine positive – wenn auch nicht spannungsfreie und fehlerlose – Öffnung gegenüber der Welt. Der erworbene Wohlstand scheint ihm hingegen die Flügel gestutzt und ihn dazu gebracht zu haben, den Blick zu senken. Europa hat ein ideelles und geistiges Erbe, das einzigartig ist auf der Welt. Dieses ist es wert, mit Leidenschaft und neuer Frische wieder aufgegriffen zu werden. Es stellt das beste Heilmittel gegen das Vakuum an Werten unserer Zeit dar, jenen fruchtbaren Boden für Extremismen aller Art.“