Tina Stahlschmidt sieht als betroffene Mutter inklusive Pädagogik nicht als Allmittel und plädiert für individuelle Angebote für behinderte Kinder, die auch Förderschulen einschließen.
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Tina Stahlschmidt
Inklusion
Täglich werde ich mit diesem Wort konfrontiert; täglich erlebe ich, dass es Fluch und Segen bedeuten kann, betroffen zu sein:
10 Uhr an einer deutschen Grundschule. In einem kleinen extra Gruppenraum sitzen 5 Kinder der ersten bis vierten Klasse. Alle werden von einer Sonderpädagogin betreut. Auf den ersten Blick klingt das gut, so sollte Förderung ja optimal gelingen.
Aber Moment, sollte das nicht im eigentlichen Klassenverband der jeweiligen Kinder geschehen? Doppelbesetzung von Lehrern, spezielles Arbeits- und Fördermaterial? Sollte es , aber es funktioniert nicht immer! Zu viele Schüler in zu vielen Klassen und zu wenig Lehrer, die sich Zehnteilen müssten um allen gleichzeitig und dauerhaft gerecht zu werden.
So werden die Kinder also separiert von den anderen gefördert. Der eine lernt lesen, der nächste rechnet, ein weiteres Kind schreibt und die anderen werden in ihrer Wahrnehmung geschult. Jedes Kind hat Fragen, jedes Kind braucht Hilfe und Erklärungen. Der Geräuschpegel ist auch bei so wenigen Kindern nicht zu unterschätzen.
Ich beobachte die Kinder: mir fällt ein Zweitklässler ins Auge, der an seinem Tisch sitzt und die Arbeitsaufträge, die er bekommen hat, nicht umsetzen kann. Er hat sichtbar Streß, rutscht auf seinem Stuhl hin und her, lenkt sich mit allem ab, was er in die Finger bekommt. Er schindet Zeit um seine Aufgaben nicht erledigen zu müssen, will ständig zur Toilette, fragt permanent wann es klingelt und macht Blödsinn.
Seine Lehrerin begeistert sein Verhalten nicht, sie ermahnt ihn mehrfach weiterzumachen und das Stören zu unterlassen. Sie kümmert sich gerade um eins der anderen Kindern, kontrolliert gemachte Arbeiten, gibt neue Aufgaben , erteilt Hausaufgaben.
Der Junge sitzt nach den ermahnenden, teilweise barschen Worte traurig blickend an seinem Tisch. Er versucht sich an den Aufgaben, kommt aber nicht weit. Ich spüre die Frustration dieses Kindes bis in die Haarspitzen. Das Arbeitsmaterial zu schwer, die Lernmethode zu kompliziert.
Immer wieder muss ich an meinen jetzt 10jährigen Sohn denken, der auch genauso verzweifelt Zeit in der Schule verbracht hat. Er lernte in der Schule aber nicht zu lesen oder zu rechnen. Er lernte wie es ist, etwas nicht zu können und an seine Grenzen zu stoßen, täglich gemaßregelt zu werden, weil die Frustration zu Fehlverhalten und Aggression führte. Die anderen Kinder zogen sich zurück, weil sich die Aggressionen dann letztlich gegen sie richtete. Dafür reichte schon ein falscher Blick oder ein falsches Wort.
Genauso ist es hier auch. Ist es das, was der Schüler lernen soll? Dass er etwas nicht schafft , dass er es trotz aller Anstrengung einfach nicht kann? Dass das, was er nicht kann, im Vordergrund steht und alles ,was er bereits gelernt hat, im Hintergrund verschwindet?
Ich erinnere mich an meine Schulzeit und wie schlimm ich es fand, wenn ich den Eindruck hatte, ich brauche zum verstehen der mathematischen Formeln länger als meine Mitschüler. Wie dumm kam ich mir doch da vor, wenn ich es nicht beim ersten Mal verstand.
Wie fühlt es sich jetzt für ein Kind an das aufgrund einer Behinderung bzw. chronischen Erkrankung oder anderem betroffen ist und sich das Nichtverstehen nicht nur auf ein Teilgebiet eines Faches bezieht , sondern auf alle Unterrichtsstoffe, den gesamten Schulalltag und eigentlich das ganze Leben?
Ich schaue mir den Jungen genauer an. Er sitzt auf seinem Stuhl, seine Schulter hängen nach unten. Seine Hände spielen mit einem Bleistift. Sein Blick wandert vom Arbeitsheft auf die Wand, an der Anweisungen zu seinem Verhalten prangen. Er schaut im Raum umher.
Sein Blick trifft mich. Seine Augen glänzen, sein Blick ist verzweifelt, das Gesicht wirkt insgesamt sehr verhärtet, die Augenbrauen sind nach unten gezogen. Mir fällt auf, dass ich in in der monatelangen Zeit, wo ich ihn schon kenne, nicht einmal habe lachen sehen. Ich kenne ihn weinend, brüllend, aggressiv, frech und sein Verhalten nicht unter Kontrolle habend. Aber lachend ….?
Ich spüre das Tränen in mir aufsteigen, wieder muss ich an meinen Sohn denken, der auch sein Lachen verloren hatte. Max hat es wiedergefunden. Durch den Wechsel an eine Förderschule, wo Erfolge zählen und nicht in den Vordergrund gestellt wird, was er noch nicht kann. Wo die Lernmethoden und das Tempo bei jedem Kind individuell den Bedürfnissen angepasst sind.
Ich sehe Max deutlich vor mir, wie er sich über jeden kleinen Fortschritt freut und wie er Stück für Stück genau dadurch sein Selbstbewusstsein und sein Lachen zurück bekam. Jetzt ist er ein fröhliches Kind das gerne zur Schule geht und viele Freunde hat.
Wie sehr wünsche ich mir das jetzt gerade auch für dieses Kind, das mich mit Tränen gefüllten Augen anschaut. Für ihn fände ich es schön, könnte er mit Gleichaltrigen in einem richtigen Klassenverband lernen – in seinem Tempo, mit anderen Methoden. Wenn er so unterstützt würde, wie und wo er es braucht.
Auch wenn er oft aggressiv ist, sehe ich hier ein Kind das Potenzial hat, zu lernen und ein toller Mensch zu werden. Es schmerzt zu sehen, dass der gemeinsame Unterricht – der hier definitiv keiner ist – eher Fluch als Segen für ihn bedeutet .
Natürlich gibt es auch Kinder, bei denen es anders ist und wo alle voneinander profitieren. Aber das sind eben nicht alle. Man darf einfach nicht vergessen, dass jeder Mensch einzigartig ist und nicht für jeden alles paßt.
Inklusion soll zu mehr Verständnis und Miteinander führen. Das kann aber nur dann gelingen, wenn alle Rahmenbedingungen stimmen und die Inklusion nicht nur den Mitmenschen etwas bringt sondern vor allem dem Betroffenen. Es müssen ALLE davon profitieren, nicht nur die Mitmenschen, die lernen wie es ist einen behinderten Mensch in seiner Gruppe zu wissen.
Ich wünsche mir, dass der Mensch hinter dem Wort „Inklusionskind“, „Förderschüler“ oder „Behinderung“ nicht vergessen wird! Schaut sie Euch an, jeden einzelnen Menschen und findet dann für jeden einzelnen den richtigen Weg – seinen Weg.
Inklusion ist kein Zaubermittel, das allen hilft. Vielmehr ist es eine Möglichkeit, das wirkliche Zaubermittel zu unterstützen. Ein Zaubermittel, dessen Wichtigkeit unterschätzt wird und mit dessen Wirkung man Bäume ausreißen oder Berge versetzen kann. Das Zaubermittel hat einen einfachen Namen: Es heißt „ glücklich sein „ !
Tina Stahlschmidt (1980) examinierte Krankenschwester,verheiratet und Mutter zweier Söhne und einer Tochter.Das jüngste Kind benötigt aufgrund einer Behinderung sonderpädagogischen Förderbedarf und besucht eine Förderschule.