Bernhard Vogel knüpft die Zukunft der Volksparteien an ihre Fähigkeit, nicht zu Schönwetter- oder Gefälligkeitsparteien zusammen zu schrumpfen.
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Bernhard Vogel
Volksparteien ohne Zukunft?
Haben die Volksparteien noch Zukunft? Mit einer gewissen Regelmäßigkeit steht diese Frage immer wieder auf der Agenda unserer politischen Diskussion. Union und SPD – und sie beide gelten bei uns als Volksparteien – müssen nur bei einer Landtagswahl oder gar bei einer Bundestagswahl jeweils unter 40 % der gültig abgegebenen Stimmen liegen oder zusammen nur noch knapp über 50 % auf sich ziehen, schon wird ihnen das Totenglöcklein geläutet. Zu Unrecht, wie ich meine!
Eine Volkspartei definiert sich für mich heute aus ihrer Fähigkeit, Parteiprogramm und Führungsstruktur so zu gestalten, dass Wähler aus allen sozialen Schichten, aus allen Altersgruppen, aus allem Konfessionen, aus allen Regionen eines Landes sich hinter ihr versammeln. Volksparteien müssen Interessen integrieren und dürfen sie nicht gegeneinander ausspielen. Ihr Anteil an der Wählerschaft ist bedeutsam, aber nicht allein ausschlaggebend. Diese Eigenschaften erfüllen auch heute noch beide großen Parteien, die CDU/CSU und die SPD. Ihre Verankerung in einem bestimmten Milieu, wie sie für SPD und Zentrum – eine der Vorläufer der Union – zurzeit der Weimarer Republik charakteristisch war, hat dagegen offensichtlich an Bedeutung verloren. Kennzeichen der kleinen Parteien – man kann sie auch, ohne sie damit abzuwerten, als Klientelparteien bezeichnen – ist dagegen, dass sie ihre Unterstützung aus bestimmten ausgewählten Kapiteln der Wählerschaft beziehen. Sie kämpfen darum, dieses Potential möglichst voll auszuschöpfen.
Das ist der FDP häufig gelungen, gelegentlich allerdings auch nicht. Erstaunlicherweise hat sich nach der Gründung der Bundesrepublik erst nach Jahrzehnten eine neue Partei dauerhaft etabliert: die Grünen. Sie entstand, weil die beiden Volksparteien ein offenkundig drängendes Thema nicht rechtzeitig erkannt und nicht rechtzeitig aufgegriffen haben. Neugründungen tun sich auch heute noch offensichtlich schwer. Das lehrt das Beispiel der Piraten-Partei. Weil es ihr nicht gelang, schrittweise ein eigenes Programm zu entwickeln und zu einem eigenen Profil zu finden, blieb sie eine „Chaos-Partei“; eine rasch wieder von der Bildfläche verschwundene Partei. Die vorrübergehende allgemeine Aufgeregtheit erwies sich als unbegründet. Auch die gegenwärtig von vielen besorgt beäugte AfD wird erst beweisen müssen, ob der von ihr wieder belebte Neonationalismus und ihr Europa-Skeptizismus, wie in anderen EU-Ländern, sich als dauerhaft tragfähig erweisen und ob es ihr gelingt, eine geordnete Führungsstruktur zu entwickeln, oder ob es dabei bleibt, dass bundgemischt Protestwähler aus allen im gegenwärtigen Bundestag vertretenen Parteien bei ihr vorübergehend Zuflucht finden. Und dass in den jungen Ländern die SED zunächst in der PDS und schließlich in den Linken eine Nachfolge fand und relativ viel Zulauf bekam, hängt nicht zuletzt mit den Schwierigkeiten bei der Überwindung der Folgen der deutschen Teilung zusammen. Trotz vorrübergehender Achtungserfolge ist es ihnen in Westdeutschland – bisher? – nicht gelungen, dauerhaft erfolgreich zu sein. In Ostdeutschland beruht ihr Erfolg auch darauf, dass sich die SPD auch in ihren traditionellen Hochburgen, in Thüringen und in Sachsen beispielsweise, sehr schwer getan hat, ein wirklich funktionsfähiges flächendeckendes Netz zu knüpfen – eine späte Folge der Zwangsvereinigung von SPD und KPD. Ob die Linken trotz ihrer überalterten Mitglieder- und Wählerschaft in den jungen Ländern ihren allerdings eingeschränkten Volkspartei-Charakter bewahren können, muss die Zukunft zeigen.
Wenn nach Jahrzehnten eine neue Partei – und sei es aus Verdruss über unsere Parteienlandschaft – auf der Bildfläche erscheint, oder auch eine Partei, weil sich ihre politischen Ziele erfüllt haben oder von der Konkurrenz übernommen worden sind, möglicherweise verschwindet, spricht das nur für die Lebendigkeit unseres politischen Systems.
Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass trotz veränderter Parteilandschaft auch heute, im Januar 2016, noch immer elf der sechzehn Länder und der Bund von einer Zweiparteienkoalition aus einer Volkspartei und einer kleinen Partei oder von einer großen Koalition regiert werden. In zwei Ländern regiert eine der beiden Volksparteien mit absoluter Mehrheit. Der Sonderfall Schleswig-Holstein mit der Sonderrolle des Südschleswigschen Wählerverbands korrigiert diese Feststellung nicht. Nur Baden-Württemberg und Thüringen fallen aus dem Rahmen. Baden-Württemberg, weil in der Koalition von Grünen und SPD die SPD nur den Part des kleineren Partners spielt, ebenso in der Thüringer Koalition, der zugleich einzigen Dreiparteienkoalition.
Ein Warnzeichen für die beiden Volksparteien muss es sein, dass sie keineswegs mehr überall die ersten und zweiten Plätze belegen. In Bremen lag die CDU bei den Landtagswahlen von 2011 hinter den Sozialdemokraten und den Grünen auf dem dritten Platz. Im Osten befinden sich die Linken häufig auf Platz zwei und die SPD erst auf Platz drei. So beispielsweise in Sachsen und in Thüringen.
Natürlich hat auch die Fünf-Prozent-Klausel stabilisierend auf unser Parteiensystem gewirkt. Weil sie zwar Splitterparteien, nicht aber kleine Parteien vom Bundestag fern gehalten hat. Auch diese Klausel ist eine der Konsequenzen aus den Erfahrungen der Weimarer Republik, und sie ist darauf ausgerichtet, stabile dauerhafte Regierungen zu sichern. Ohne Frage: Ein zersplittertes Parteiensystem führt zu instabilen Regierungen, schwächt aber auch die Schlagkraft der Opposition.
Die Stabilität der Bundesrepublik beruht seit Jahrzehnten nicht unwesentlich auf der Existenz zweier Volksparteien, wie sie sich nach den ersten Bundestagswahlen von 1949 herauskristallisiert haben. Obwohl das seitdem im Wesentlichen unverändert geltende Verhältniswahlrecht sie nicht begünstigt, wie etwa das relative Mehrheitswahlrecht Englands und der USA. Beide Volksparteien haben entscheidend zu Sicherung unserer Demokratie beigetragen. Man mag sie noch so heftig kritisieren, sie sind mit dem beispielhaften Aufstieg der Bundesrepublik nach 1945 eng verbunden. Seit 1961 ist die Bundesrepublik immer von einer Volkspartei und einer kleinen Partei gebildet worden. 46 Jahre kam der Kanzler oder die Kanzlerin aus den Reihen der Union, die bei Bundestagswahlen mit wenigen Ausnahmen fast immer über 40 % der gültigen Stimmen erreichte; 20 Jahre aus den Reihen der SPD, die ebenfalls mehrfach über 40 % der Stimmen gewann, allerdings bei den letzten beiden Bundestagswahlen unter 30 % blieb. Die großen Koalitionen von 1966 und 2005 waren Ausnahmen und wurden auch als solche empfunden. Und die gegenwärtige große Koalition erklärt sich aus der Schwäche der kleinen Parteien, nicht aus dem Abschneiden der beiden Volksparteien.
Gelegentlich wird die sinkende Wahlbeteiligung mit der Kritik an den Volksparteien in Verbindung gebracht. Kann man noch von Volksparteien sprechen, wenn sie mitunter nur noch von weniger als der Hälfte der Bevölkerung gewählt werden? Bei mehr Auswahl, so wird argumentiert, wäre das Interesse, zur Wahl zu gehen, größer. Ein Trugschluss, wie ich meine! Natürlich steigt mit der Breite des Angebots die Chance, dass meine Ansichten mit einem der Parteiprogramme übereinstimmen. Aber es wächst auch die Gefahr, sich nach notwendig werdenden Koalitionsverhandlungen im Koalitionsabkommen nicht wieder zu finden. Von Parteischacher ist dann gerne die Rede, wo es doch in Wahrheit darum geht, regierungsfähige Mehrheiten zu erreichen, einer handlungsfähigen Regierung ins Amt zu verhelfen. Dass dabei jede Partei dafür kämpft, möglichst viele im Wahlprogramm und im Wahlkampf vertretene Ziele durchzusetzen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein und den Parteien nicht vorgeworfen und nicht als Parteigeschacher kritisiert werden. Im Gegenteil, sie haben Lob verdient, wenn sie das, was sie vor den Wahlen angekündigt haben, nach den Wahlen auch umzusetzen versuchen.
Wir Deutschen mit unserem Hang zum Perfektionismus sehen am liebsten eine hundertprozentige Wahlbeteiligung. Obwohl uns doch die eigenen Geschichte lehrt: Wahlbeteiligungen von 90 und mehr Prozent sind Krisensignale. In der Welt draußen wäre man mit Wahlbeteiligungen, wie wir sie bei Bundestagswahlen haben, sehr zufrieden. Enttäuschend dagegen, dass etwas an der Europawahl von 2014 nur 48 % der Wähler teilgenommen haben. Absolut unzufrieden muss man mit der sinkenden Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen, aber vor allem mit der negativen Tendenz bei Kommunalwahlen sein. Es ist enttäuschend, wenn manche Oberbürgermeister oder mancher Landrat bei einer Wahlbeteiligung von nur 35 % gewählt wird. Es enttäuscht, dass Wähler gerade dort zu Hause bleiben, wo ihr Urteilsvermögen am entwickeltsten sein sollte. Allerdings spielt wohl eine Rolle, dass man, wenn man zufrieden ist, weniger motiviert zur Wahl geht, als wenn man etwas auszusetzen hat. Wenn die Wiederwahl eines bewährten Bürgermeisters ansteht, lockt das Wenige hinter dem Ofen hervor. Viele sagen sich: „Der wird ja ohnehin wieder gewählt:“ Aber gleichwohl bin ich gegen jede Wahlpflicht. Zur Freiheit gehört auch das Recht, nicht vom vornehmsten Freiheitsrecht Gebrauch zu machen. Das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken, würde die Wahlbeteiligung nicht erhöhen, im Gegenteil. Wer noch nicht volljährig ist, wer noch dem Jugendstrafrecht unterliegt, dem sollte die Bürde der Mitverantwortung für unseren Staat noch nicht auferlegt werden.
Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit – so steht es im Grundgesetz. Parteien sind notwendig, ohne sie kann ein demokratisches Staatswesen nicht existieren. Parteien brauchen Mitglieder, brauchen ein flächendeckendes Organisationsnetz und sie brauchen ein Programm, das deutlich macht, wofür sie stehen und was ihr Markenkern ist. Insgesamt weit mehr als eine Million Mitglieder sorgen in Deutschland dafür, dass politische Diskussionen stattfinden, Beschlüsse gefasst werden, dass Kandidaten nominiert und das Wahlkämpfe geführt werden können. Sie bilden das Rückgrat unserer demokratischen Ordnung in den Gemeinden, in den Kreisen, den Ländern und im Bund. Man sollte ihnen gelegentlich auch einmal danken. Die Zahl der Mitglieder auch in den Volksparteien geht zurück.
Und die Motivation der Parteimitglieder hat sich verändert. Man tritt einer Partei heute bei, weil man tatsächlich etwas bewirken, weil man mitgestalten und tätig werden will. Selten aus Tradition und in der Absicht, sich nicht selbst zu engagieren. Aber auch das Wahlverhalten der Bürger in der Bundesrepublik hat sich geändert, man kann sagen, sie sind wählerischer geworden. Der Anteil der sogenannten Stammwähler nimmt insbesondere bei den Volksparteien weiter ab, und die Zahl der Nichtwähler hat deutlich zugenommen. Man sollte den Nichtwählern nicht generell vorwerfen, sie seien desinteressiert, bequem und sie scheuten die Mühe zu Wahl zu gehen. Vielmehr gibt es inzwischen eine wachsende Gruppe „wählender Nichtwähler“. Die Reihen derer, die aus politischer Überlegung nicht zur Wahl gehen, hat deutlich zugenommen, viele von ihnen wenden sich von der bisher gewählten Partei ab, aber deswegen nicht anderen Parteien zu. Viele wollen auch dadurch ihren Protest, zum Beispiel gegen zu wenig Unterscheidungsmerkmale, zum Ausdruck bringen. Viele meinen, Parteien seien sich in den letzten Jahrzehnten immer ähnlicher, zu ähnlich, geworden. Sie wetteiferten zwar um die Gunst der Wähler, vermieden aber Kante zu zeigen, für die sich zu engagieren oder gegen die sich zu kämpfen lohnte.
Die beiden Volksparteien sollten den von Franz Josef Strauß immer wieder formulierten Grundsatz nicht aus den Augen verlieren: Beide Volksparteien werden nur solange erfolgreich sein, wie sie an ihren Rändern keine Konkurrenz zulassen. Für die Union ist aktuell, wegen des Entstehens der AfD, besondere Wachsamkeit geboten. Der SPD sollte insbesondere in den neuen Ländern die Rückgewinnung verlorener Wähler an ihrem linken Rand gelingen.
Trotz mancher Veränderungen: Eine ernsthaft Krise des Parteiensystems oder gar eine ernsthafte Bedrohung der Stabilität der Bundesrepublik kann ich nicht erkennen. Aber erkennbare Haarrisse verlangen Wachsamkeit. Die Volksparteien haben nicht ausgedient. Sie dürfen ihren Charakter nicht aufgeben, sie dürfen nicht zu Schönwetter- oder Gefälligkeitsparteien zusammenschrumpfen. Sie müssen Kante zeigen. Dann werden sie auch Zukunft habe.
Bernhard Vogel (1932) hat in Heidelberg und München PolitischenWissenschaft, Geschichte, Soziologie und Volkswirtschaft studiert und war dann bis 1967 Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg, Er war von 1965 – 2004 Bundestags- bzw. Landtagsabgeordneter, Kultusminister in Rheinland-Pfalz (1967 – 1976) sowie Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz (1976- 1988) und Thüringen (1992 – 2003).. Außerdem war u. a. Vorsitzender des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken (1972 – 1976) und der Konrad-Adenauer-Stiftung (1989 – 1995 und 2001 – 2009). Er gehört zu den Herausgebern von kreuz-und-quer.de