Dr. Christoph Braß
Aufgewachsen ist er im Münsterland. Ewald Frie – Jahrgang 1962 – stammt aus einer Bauernfamilie und beschreibt in seinem lesenswerten Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ die schleichende Auflösung der bäuerlichen Gesellschaft in den 1960er Jahren. Streng genommen ist es eine Studie zu Münster und Umgebung. An anderen Ecken Deutschlands mag es zum Teil anders gewesen sein. Dennoch ist das Buch eine spannende Lektüre, weil viele Dinge wahrscheinlich ähnlich ihren Lauf genommen haben.
Frie schreibt unaufgeregt. Aber man merkt dem Autor an, dass viel Sympathie mitschwingt für eine Welt, die in vielen Bereichen fast vergessen ist. Er beschreibt, wie die ältesten seiner Geschwister – sein ältester Bruder ist 1944 geboren – auf die Dorfkinder herunterschauten. Bauern und „Dörfler“ lebten in unterschiedlichen Welten. Die Dorfjungend traf sich zum Fußballspielen – die Söhne von wohlhabenden Bauern trafen sich bestenfalls zum Reiten. Das änderte sich in den 60er Jahren: Der Bauer hatte sein Prestige verloren.
Das hatte zum einen faktische Gründe, auf die Ewald Frie eingeht: Es waren nicht mehr so viele Bauern nötig, um ein Land zu ernähren. Knechte brauchte man bald nicht mehr. Inzwischen bezogen auch die Facharbeiter gute Löhne, hatten einen geregelten Arbeitstag und Anspruch auf einen Urlaub. Die Mechanisierung und der Fortschritt hatten auch vor dem Bauernhaus nicht Halt gemacht. Aber es gab darunter noch eine diffuse, zweite Ebene: Irgendwie „roch“ man, wenn man aus dem Bauernhof kam. Das landwirtschaftliche Wochenblatt gab Mitte der 60er Jahre den Tipp, dass Wasser und Seife helfen könnten. Nicht zu vergessen „das tägliche Brause- oder Wannenbad.“
Eine von Fries jüngeren Schwestern war eine begeistertere Leichtathletin. Aber sie hatte keine Sportschuhe – auch, weil sie zu teuer waren und der Sinn sich für „die Altvorderen“ nicht ohne weiteres erschloss. Also lief sie barfuß mit und hat trotzdem gewonnen. Auf die Frage, warum sie keine Schuhe anhätte, habe sie einfach behauptet, dass man ohne Schuhe schneller laufen könne. Offenkundig eine Notlüge. Fries Kommentar: „Aufholen ist anstrengend.“
Oft wirkt das kleine Buch (170 Seiten) wie eine Zeitreise, zu der der Autor seine Leserschaft einlädt. Unter dem Stichwort „Milieukatholizismus“ findet sich eine dichte Beschreibung der Alltagsriten, die er noch erlebte: Die Bauern trafen sich nach dem Gottesdienst beim Stammtisch unter ihresgleichen. Die Frauen gingen derweil ins Café. Bis in die 70er Jahre wurden in seiner Heimatregion die Namenstage gefeiert – und nicht die Geburtstage. Am Heiligen Abend ging der Bauer in seinem Hof von Tür zu Tür und machte mit der Hand jeweils ein Kreuz darauf. „Einsegnen“ nannte man das. Oder dass die Bäuerin ihrer Tochter den Rat gab, dass sie Dinge, die man gerne aufschob, weil sie unangenehm oder lästig waren, endlich anpacken sollte – und zwar, wenn es anders nicht ging, „zur größeren Ehre Gottes“. Vor allem die Begründung mit den Allerhöchsten ist interessant.
Sein älterer Bruder, der anfangs kindlich-fromm war, zog offenbar in Erwägung, Priester zu werden. Er kam aufs Internat, aber irgendwann kam er in den Ferien zurück und verkündete, dass er dorthin auf keinen Fall mehr zurückgehen werde. Der Priesterwunsch war ihm gründlich verleidet worden. Die Eltern akzeptierten das. Frie beinahe lakonisch: Er „hatte eine Überdosis Katholismus erhalten.“ Und weiter: „Nicht nur der Bücherschrank war ein Sammelsurium unterschiedlicher Theologien und Frömmigkeiten. Unser Alltagsleben war es auch.“ Gerade solche Miniaturen machen das Buch lesenswert.
Die Herrschaft der Nationalsozialisten war in der Familie kein Thema. Genauso wie der zweite Weltkrieg. Seine Erklärung wirkt plausibel: „Meine Eltern haben sich, so scheint mir, während der nationalsozialistischen Zeit weggeduckt. Sie haben gehofft, dass sie so durchkämen. Heldenhaft ist ihnen das im Rückblick wohl nicht vorgekommen, weshalb sie das Thema tunlichst vermieden.“
Ewald Frie ist Professor für neuere Geschichte an der Universität Tübingen. Vielleicht ist das ein Glücksfall: Er hat gelernt, präzise Fragen zu stellen. Der Grundstock für dieses Buch waren Interviews, die er mit seinen Geschwistern führte. Diese verdichtete er in verschiedenen Kapiteln. Der Vater wird als eher ernsthaft, manchmal sogar ein wenig unnahbar beschrieben: Rinderzucht, Schweinehaltung, Arbeiten und Glauben waren sein Lebensinhalt. Von der Beziehung zu Gott machte er nicht viel Aufhebens. Sie war einfach da. Darüber hinaus musste der Hof am Laufen gehalten werden.
Seine Mutter, schreibt Frie, war eine zutiefst fromme Frau – und zugleich war sie offen für das Neue. Eine eher seltene Kombination. Deshalb zog sie sich nicht auf „bewährte“ Formen und Rituale zurück, bei denen die Gefahr bestand, dass sie allmählich hohl und ausdruckslos würden. Wenn die persönliche Gottesbeziehung an Bedeutung gewann, rückten der Papst, die Bischöfe und die Kleriker vor Ort ein wenig in den Hintergrund. Die Dinge verschoben sich etwas. Und zugleich hat der Mensch die Chance, freier zu werden. Ewald Fries Mutter ergriff diese Gelegenheit. Auch das ist „Reformkatholizismus“.
Gegenüber ihren Töchtern ließ Fries Mutter keine Präferenz für den Beruf der Bäuerin erkennen. „Alle sollten genau das machen, wofür sie eine besondere Neigung verspürten,“ war ihr Credo. Das war modern und weitsichtig. Die Folge: Alle Mädchen haben einen pädagogischen Beruf gewählt. Keine trat in die Fußspuren ihrer Mutter und wurde Bäuerin.
Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben. München 2023. „Ein Hof und elf Geschwister“ ist Sachbuch des Jahres 2023.
Dr. Christoph Braß ist einer der Redakteure von „kreuz-und-quer.de“ und war längere Zeit Vizepräsident des ZdK. Er war Abteilungsleiter Inland unter Bundespräsident Gauck.