Glauben und Denken in Umbruchzeiten

Vor 100 Jahren kam Romano Guardini nach Berlin

Prof. Dr. Thomas Brose

„Ich war mir selbst zur großen Frage geworden, und ich nahm meine Seele ins Verhör, warum sie traurig sei und mich so sehr verstörte.“

Diese Selbstdiagnose stammt nicht von einem gestressten Zeitgenossen, der sich einer psychologischen Beratungsstelle anvertraut, sondern von einem profilierten Glücks- und Gottsucher vergangener Umbruchzeiten: von Aurelius Augustinus (354 bis 430).

Damals wie heute: Suche nach existentiell tragfähigen Antworten

Wer seine Confessiones studiert, kann darin trotz historischer Distanz eine existentielle Nähe zu gegenwärtigen Suchbewegungen finden. Ein junger Mann mit spätantikem Hintergrund und unruhigem Herzen sieht sich gezwungen, die Suche nach dem eigenen Selbst in den Mittelpunkt seines Lebensentwurfs zu stellen. Wahrscheinlich würde der eloquente Jungakademiker heute sozialwissenschaftlich als „moderner Performer“ durchgehen: als leistungsorientierter Intellektueller, der flexibel genug wäre, Erfahrungen im europäischen Ausland, in Asien oder Amerika zu sammeln, um sich dort mit bisher unbekannten Kulturen und Weltanschauungen auseinanderzusetzen und sie „auszuprobieren“ – wie der historische Augustinus. Vielleicht darf man weiter fragen: Würde der existentiell Suchende heute noch auf spirituelle und intellektuelle Kraftquellen stoßen, die ihn damals unwiderstehlich zum christlichen Glauben hingezogen haben?

Kindheitsmuster des Christentums: Ablehnung der griechisch-römischen Zivilreligion – Bejahung weisheitlicher Tradition

Augustinus’ spätantike Umwelt ist untergegangen; sie bildet jedoch den prägenden Entfaltungsraum des christlichen Glaubens. In unserer Gegenwart spielt die Konkurrenz von Sinnangeboten, Lebensentwürfen und apokalyptischen Erwartungen, mit denen insbesondere die frühen Christinnen und Christen in den Megastädten und Metropolen ihrer Epoche konfrontiert waren, wiederum eine zentrale Rolle. Wer in gegenwärtigen Umbruchzeiten nach dem gesellschaftlichen Ort des Christentums fragt, ist darum gut beraten, auf jene „Kindheitsmuster“ zurückzugreifen. Dabei wird deutlich: Damals zeigten die Anhänger des „neuen Weges“ Profil; sie wurden scharf als atheistische Dissidenten ausgegrenzt, weil das polytheistische Sinnkonzept der griechisch-römischen Zivilreligion von ihnen in grundsätzlicher Weise in Frage gestellt wurde. Andererseits aber wagten geistige Grenzgänger – wie etwa Klemens, der in der jüdisch-hellenischen Metropole Alexandria lehrte – Brückenschlage hin zum spätantiken Zeitgeist. „Das menschliche Heil“, so auch Augustinus, hänge daran, „dass Philosophie, das heißt Weisheitsstreben und Religion, nicht voneinander verschieden sind.“

Den spannenden Gedanken, dass Glaube und Unglaube in engster Weise zusammengehören, hat das Zweite Vatikanischen Konzil wieder aufgegriffen: Danach tragen Christinnen und Christen Mitverantwortung, wenn sich Religionsfeindlichkeit und Atheismus ausbreiten. „Das Heilmittel gegen den Atheismus“, erklärt Gaudium et Spes 21, könne „nur von einer situationsgerechten Darlegung der Lehre und vom integren Leben der Kirche und ihrer Glieder erwartet werden“.

Romano Guardini: Seelsorger für die „draußen vor der Kirchentür“

Darum ist es ein guter Zeitpunkt, an einen Visionär und Spurensucher zu erinnern, der sich – lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil – in existentieller Weise vom modernen „Unglauben“ herausfordern ließ: Die Rede ist von Romano Guardini (1895 bis 1968), der im Jahr 1923 nach Berlin kam. Bereits der Weg in die Hauptstadt erwies sich als schwierig: Der frisch habilitierte Bonner Privatdozent benötigte nämlich einen Waschkorb voller Papiergeld, um die Fahrkarte zu lösen. Die Stelle auf dem neu geschaffenen Lehrstuhl für Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung trat der Achtunddreißigjährige im schwersten Augenblick der Weimarer Republik an: als das Ruhgebiet besetzt, die Demokratie permanenten links- und rechtsextremistischen Angriffen ausgesetzt und die Hyperinflation scheinbar nicht mehr zu stoppen war.

Tatsächlich ist hervorzuheben, dass der Theologe, Philosoph und Seelsorger vor hundert Jahren ein vorbildloses Wagnis einging, als er sich auf den Weg zum geistig-politischen Brennpunkt des Landes aufmachte und bis zu seiner Zwangspensionierung durch den NS-Staat im Jahr 1939 mitten in Berlin an der Lindenuniversität für jeden ansprechbar war, der seinen Rat suchte.

Guardini nahm die Auseinandersetzung mit den „Gebildeten unter den Verächtern der Religion“ (Friedrich Schleiermacher) an einem Ort auf, der für ihn selbst zunehmend bedrohlich wirkte: im Zentrum des weltanschaulichen Kampfes. Der Priester und Professor wandte sich in Berlin nicht nur den „religiös Musikalischen“ zu, sondern fühlte sich auch für die „draußen vor der Kirchentür“ verantwortlich: „für Agnostiker, Zweifelnde und Verzweifelte, für Skeptiker und Ungläubige, ja auch für die vielen, bei denen das Wort Kirche kaum noch Gefühle, nicht einmal der Ablehnung erregt (Hans Maier)“.


Prof. Dr. Thomas Brose studierte Katholische Theologie und Philosophie in Erfurt, Berlin und Oxford; er war bis 1989 in der politischen Opposition; 1990 beteiligt am „Runden Tisch der Jugend“; Begründer der Guardini-Lectures an der Humboldt-Universität; Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Vizepräsident der Guardini Stiftung.

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