Cornelia Coenen-Marx beschreibt die wachsende Bedeutung des Ehrenamtes auch als Teilhabe in jedem Alter.
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Cornelia Coenen-Marx
Ehrenamt als Teilhabe
Wolfgang Hirsch, bis zu seinem Ruhestand leitender Angestellter in der Wirtschaft, ist ehrenamtlicher Leiter der Kontaktstelle Ehrenamt im Kirchenkreis Essen. Im Kulturhauptstadtjahr 2010 organisierte er den „Kirchenwächterdienst“ in der Marktkirche, wo damals Ausstellungen zum Thema „Menschenbilder“ stattfanden. Unter den etwa neunzig Ehrenamtlichen waren neunzehn Menschen mit einer geistigen Behinderung, die ihren Dienst im Tandem mit einem Nichtbehinderten ausübten. Das machte so viel Spaß, dass sie nach Ende des Kulturhauptstadtjahres weitermachen wollten. Hirsch konnte die Kulturwerkstatt ARKA auf der Zeche Zollverein für eine Zusammenarbeit gewinnen und bis heute sind dort Menschen mit Behinderung bei Ausstellungen engagiert. Einer von ihnen ist inzwischen zum Mitorganisator der Gruppe geworden. Und es geht weiter: Inzwischen hat sich eine Zusammenarbeit mit der Bahnhofsmission Essen entwickelt, wo nun vier Menschen mit Behinderung in Tandems mitarbeiten.
Ehrenamtliches Engagement stärkt das Selbstbewusstsein und ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe. Die sozialwissenschaftliche Forschung zeigt: Menschen, die sich in Gruppen engagieren, entwickeln ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen, eine positive Grundeinstellung in der Begegnung auch mit Menschen aus anderen gesellschaftlichen Schichten und Milieus. Davon sollte niemand ausgeschlossen sein – weder Menschen mit Behinderung noch Hartz-4-Empfänger oder Migranten. Menschen, die sich sonst selbst als Hilfeempfänger erleben, entwickeln in der Hilfe für andere neue Kompetenzen. Die Aktiven beim Projekt „Menschenstadt“ in Essen sind ein Beispiel dafür. Ich denke aber auch an „Kunden“ der Tafel, die zum Teil des Teams werden oder an Geflüchtete, die zu Museumsführern ausgebildet wurden.
In unserer Arbeitsgesellschaft scheint jedoch nur zu zählen, was jemand beruflich leistet. Das zeigt sich selbst beim Thema Ehrenamt. Arbeitslose fallen aus allen Netzen heraus, während sich Erwerbstätige durchaus auch ehrenamtlich engagieren. Selbst unsere sozialen Sicherungssysteme hängen an der Erwerbsarbeit. Dabei dient auch die Zeit, die Menschen für ihre Nachbarn oder für Hilfebedürftige da sind, dem sozialen Zusammenhalt; mittelfristig muss sich das viel deutlicher im Steuer- und Sozialversicherungssystem niederschlagen. Immerhin 44 % der Freiwilligen fordern eine bessere steuerliche Absetzbarkeit der Unkosten, 22 % sogar eine bessere Vergütung fürs Ehrenamt – meistens sind das Arbeitslose oder Personen mit geringem Einkommen. Der größte Teil der Ehrenamtlichen ist darauf nicht angewiesen; sie sind eher gut situiert. Aber es gibt ein „Recht auf Engagement“ für jeden – und jede wird gebraucht.
Ohne Nachbarn und Freunde, ohne ehrenamtliche Besuchs- und Betreuungsdienste sind schon jetzt viele Menschen nicht in der Lage, die Hilfeangebote anzunehmen, die ihnen zustehen – und das wird mit dem demographischen Wandel zunehmen. Das zeigt sich in der Hospizarbeit und der ambulanten Behindertenhilfe, aber auch in der Hilfe für pflegebedürftige ältere Menschen. Unser Sozial- und Gesundheitssystem ist auf die Zusammenarbeit mit Freiwilligen angewiesen. Aber die Zusammenarbeit ist alles andere als reibungslos. Das liegt auch daran, dass die Einrichtungen und Dienste vor allem anderen auf Funktionalität und Effektivität ausgerichtet sind. Angehörige, die das Recht ihrer Verwandten auf Selbstbestimmung einklagen, Ehrenamtliche, die die Organisation eines Hauses in Frage stellen, können zum Störfall werden. Es gibt gute Gründe, dass der Anteil der Freiwilligen im stationären Gesundheitswesen besonders gering ist. Dagegen wächst die Zahl geringfügig Beschäftigten, die weggefallene Stellen auffüllen – genauso wie die der Ehrenamtlichen, die mit Aufwandsentschädigung arbeiten. Sie sorgen dafür, dass der Betrieb möglichst reibungslos läuft, empfinden sich aber oft als der billige Jakob eines ausblutenden Sozialstaats.
Ehrenamtliches Engagement gewinnt an Bedeutung. Dahinter stehen neue Konzepte des Sozialstaats, aber auch ein wachsendes Selbstbewusstsein der Zivilgesellschaft. So zeigt der letzte Freiwilligensurvey der Bundesregierung einen neuen Ausgleich von Ich- und Wir-Orientierung, weg von der Geselligkeits- hin zu Gemeinwohlorientierung. Tatsächlich brauchen wir eine neue Kultur des Sozialen. Die Leitbilder der Betreuung und Vereinnahmung müssen durch solche der Selbstverantwortung und Caring Communities ersetzt werden.
Ohne die „jungen Alten“ ist das kaum vorstellbar. Sie sind häufig sozial und oft auch politisch engagiert, bringen breite Lebenserfahrungen und berufliche Kompetenzen ein und sie bilden auch in den Gemeinden die zweitgrößte Ehrenamtsgruppe. Die Zahl der ehrenamtlich Engagierten in den Kirchen ist sogar noch gestiegen – ein Beleg, dass die Kirchen nach wie vor als Plattform für ehrenamtliches Engagement gefragt sind. Nicht erst die Flüchtlingsbewegung, sondern vorher schon die Hospiz- und die Tafelbewegung haben gezeigt: Kirchen sind stark, wenn Problemlagen noch diffus erscheinen und alles darauf ankommt, flexible Konzepte zu entwickeln – ausgehend von der unmittelbaren Wahrnehmung und nicht von festgelegten Strategien und definierten Modulen. Das braucht offene Räume, ein Mindestmaß an hauptamtlich Mitarbeitenden und eine finanzielle Grundausstattung, aber auch Vertrauen und Erfahrung. „Das alles bringen die Kirchen mit.
Es geht um ein neues Verhältnis von Staat und Gesellschaft, das nicht in Kategorien staatlicher Planung und Steuerung von gesellschaftlichen Prozessen definiert wird, sondern im Sinne einer neuen, kooperativen Verantwortungsteilung“, so Michael Bürsch, von 1999 bis 2002 Vorsitzender der Enquetekommission Bundestages. Ihm ging es um das Leitbild Bürgergesellschaft. Auch in den Kirchen wollen Menschen spüren, dass sie sich mit ihren Kompetenzen und Leidenschaften an der Gestaltung beteiligen können. In jedem Alter, mobil oder immobil, selbst wenn nur Zeit für ein Projekt ist – und dafür Unterstützung und Mitsprachemöglichkeiten finden. Das Beispiel Essen zeigt: So können Kirchen demokratische Prozesse unterstützen.
Cornelia Coenen-Marx (1952) ist Pastorin und Publizistin. Die frühere EKD-Oberkirchenrätin für Soziales und Gesellschaft hat zusammen mit dem ZDK Ehrenamtskongresse organisiert und ist heute Inhaberin der Agentur „Seele und Sorge“. Zu ihren Veröffentlichungen gehört „Symphonie-Drama-Powerplay“, Haupt- und Ehrenamt in der Kirche (2017 mit Beate Hofmann.