Dorothee Haentjes-Holländer beschreibt im Drei-Generationen-Überblick die Bedeutung der freien Wahl.
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Dorothee Haentjes-Holländer
Warum wählen? – Freiheit verpflichtet!
Heute Morgen kam mir mit der Zeitung ein Prospekt ins Haus geflattert. In einem Möbelladen werden Bettwäsche, Handtücher und Türstopper angeboten. Unter jedem dieser Angebote steht, neben den verschiedenen Modellen und Designs: „Freie Wahl!“
Die Reklame lässt es erkennen: Frei wählen zu können, gilt als ein wichtiges Gut – selbst wenn es um etwas so Profanes wie die Wahl von Bettwäsche und Türstoppern geht. Als Bürgerin dieses Landes aber habe ich die Möglichkeit, nicht nur Homedeko, sondern sogar die Regierung meines Landes frei zu wählen.
Es gibt zwei Momentaufnahmen in meinem Leben, die mein Verhältnis zu Wahlen und zur Frage „Warum wählen?“ entscheidend geprägt haben.
Die erste stammt aus dem Jahr 1969. Es war der 28. September, der Tag der Bundestagswahl. Zum ersten Mal bekam ich mit, dass meine Eltern zur Wahl gingen. Was Politik bedeutete, darüber machte ich mir als Sechsjährige keine Gedanken. Was ich aber spürte, war die Stimmung meiner Eltern: Nach der Messe gingen sie mit einer Mischung aus Ernst, Selbstverständlichkeit und feierlicher Hochstimmung in ihren Sonntagskleidern hinüber zur Schule und wählten. Ich spürte, dass sie es gern taten; dass es sie zufrieden und irgendwie froh machte – auch wenn ich mir keinen richtigen Reim auf diese Sache machen konnte. Aber das ging mir ja damals in der Kirche oft genauso. Kurz und gut: Zur Kirche gehen und am Wahlsonntag anschließend zur Wahl – für meine Eltern gehörte es offenbar zusammen. Und tatsächlich hielten sie es so bis ins Alter, solange ihre Mobilität es erlaubte.
Mit der zweiten Momentaufnahme meines Lebens, die mein Verhältnis zur Frage „Warum wählen?“ prägte, erkannte ich, warum es für meine Eltern nicht nur einen organisatorischen Zusammenhang zwischen dem Besuch der Kirche und dem Gang zur Wahlurne gab, sondern durchaus auch einen inhaltlichen:
Vor wenigen Jahren fielen mir Briefe meines Vaters aus den Jahren 1946 – 1948 in die Hände. Mit großem Interesse las ich seinen Bericht über die erste Landtagswahl des jungen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Mein Vater erzählte in sachlichem Ton. Und dennoch sprechen aus seinen Zeilen die Erleichterung und geradezu ein gewisser Stolz, dass es in dem Staat, der bis kurz zuvor durch die nationalsozialistische Diktatur gekennzeichnet war, nunmehr freie Wahlen gab. Die Sehnsucht nach Freiheit war Wirklichkeit geworden – und zwar in einem weit größeren Umfang, als dies wohl alle, die Nazi-Deutschland erlebt hatten, zu hoffen gewagt hatten.
Bis zum Kriegsende hatten meine Eltern Freiheit nur in einer geistigen Dimension erfahren: in ihrem Glauben, der ihnen Wegweiser und innerer Kompass war. Die Religion bot ihnen den Raum, in dem sie anders denken konnten, als das Regime es vorgab, und der sie auch erkennen ließ, dass letzten Endes der gläubige Mensch seine Entscheidungen nur mit sich und mit Gott auszumachen hat. Dies ist wohl die größte Freiheit, die man sich vorstellen kann. Auf diese Weise haben sich der sonntägliche Kirchgang und der Gang zu den freien Wahlen im Leben meiner Eltern auf selbstverständliche Weise verbunden.
Das Vorbild meiner Eltern und ihre Botschaft ist fest in mein Bewusstsein eingeprägt: Freiheit ist ein Privileg. Und das Privileg, Freiheit genießen zu dürfen, heißt nicht nur, tun und lassen zu können, was man will. Sondern aus dem Genuss des Privilegs erwächst zugleich die Pflicht, sich dieses Privilegs würdig zu erweisen.
Mit Sorge sehe ich daher, dass wir mit dem Verlust der Generationen, die Diktatur und Unfreiheit in unserem Land erlebt haben und ihre Erfahrungen unmittelbar weitergeben konnten, ein wichtiges gesellschaftliches Korrektiv verlieren. Frieden, Freiheit und Demokratie sind seit 1989 eine Selbstverständlichkeit in ganz Deutschland. So selbstverständlich, dass meiner Beobachtung nach vor allem in den jüngeren Generationen das Bewusstsein dafür abhandenkommt, wie wenig selbstverständlich dieser Zustand in Wirklichkeit ist, und dass wir als Bürger dieses Landes das Instrument der freien Wahlen mehr als ernst nehmen sollten; dass Freiheit und Demokratie nur bestehen bleiben, wenn wir uns aktiv an der Demokratie beteiligen.
Ich werde das Privileg, in einer Demokratie zu leben, immer nutzen und mich aktiv an ihrem Erhalt und am Erhalt der Freiheit beteiligen, indem ich zu den Wahlen gehe. Und zwar nicht zu denen im Möbelladen, sondern zu denen, die an den Wahlurnen entschieden werden.
Dorothee Haentjes-Holländer (1963) lebt in Bonn. Als langjährige freiberuflicheAutorin und Übersetzerin für Kinder- und Jugendliteratur, richtet sie sich seit einiger Zeit mit Publikationen und Hörfunkbeiträgen zu historischen, kunsthistorischen und geistlichen Themen auch an ein erwachsenes Publikum.