Bundestagspräsident Norbert Lammert – Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de – unterstrich in seiner eindrucksvollen Eröffnungsrede zur 16. Bundesversammlung die Grundlagen der Wertegemeinschaft des Westens und warb dafür, sie zu verteidigen.
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aus der Rede von
Bundestagspräsident Norbert Lammert zur Eröffnung der 16. Bundesversammlung am 12. Februar 2017
„Den demokratischen Grundkonsens zu artikulieren, ist schwieriger geworden in einer Gesellschaft, die immer mehr Einzelinteressen kennt, und in einer Öffentlichkeit, die gern das Trennende gegenüber dem Einigenden betont, das Besondere gegenüber dem Allgemeinen. Das macht die Aufgabe des Bundespräsidenten gewiss nicht einfacher, aber zweifellos seine Bedeutung im Verfassungsgefüge umso größer – erst Recht in einem Moment, der von manchen Beobachtern bereits zur beunruhigenden Zeitenwende dramatisiert wird.
Dabei ist die Zukunft heute keineswegs offener als früher; sie war immer ungewiss und forderte ordnende Gestaltung – schon gar in den vergangenen 25 Jahren seit Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, die wir rückblickend als eine Epoche der besonderen Herausforderungen, Hoffnungen und Chancen begreifen. Die Zukunft scheint derzeit allenfalls unberechenbarer, weil vermeintliche Selbstverständlichkeiten, gewachsene Einsichten und Überzeugungen sowie seit Jahrzehnten gültige Regeln in Frage gestellt oder auch mutwillig gebrochen werden.
Vor 100 Jahren, zum Ende des Ersten Weltkriegs, konstituierte sich mit Kriegseintritt der USA auf Seiten der liberalen Demokratien in Europa das, was wir heute wie selbstverständlich „den Westen“ nennen: eine weltumspannende Wertegemeinschaft. Folgen wir dem Historiker Heinrich August Winkler, so ist die Geschichte dieses normativen Prozesses, dem sich unser Land erst nach entsetzlichen Verirrungen mit Gründung der Bundesrepublik angeschlossen hat, immer auch eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Werte gewesen – und zugleich stets eine Geschichte der produktiven Selbstkritik und Selbstkorrektur. Beides braucht es heute mehr denn je, Selbstkritik und Selbstkorrektur, innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft wie innerhalb unserer liberalen Gesellschaften. Nicht etwa die Werte des Westens stehen in Frage, sie haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren, wohl aber unsere Haltung – zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und den Prinzipien der repräsentativen Demokratie.
Wer Abschottung anstelle von Weltoffenheit fordert und sich sprichwörtlich einmauert, wer statt auf Freihandel auf Protektionismus setzt und gegenüber dem Zusammenarbeiten der Staaten Isolationalismus predigt, wer damit zum Programm erklärt: Wir zuerst!, darf sich nicht wundern, wenn es ihm andere gleichtun – mit allen fatalen Nebenwirkungen für die internationalen Beziehungen, die uns aus dem 20. Jahrhundert bekannt sind.
Die wirklich großen Herausforderungen können unter den Bedingungen der Globalisierung allesamt nicht mehr von Nationalstaaten allein bewältigt werden, nicht in der Finanzwelt, nicht im Umgang mit den weltweiten Migrationsströmen, nicht im Kampf gegen den Terror oder gegen den Klimawandel. Das gilt gewiss für jedes einzelne Land in Europa, ebenso aber auch für unser großes Partnerland jenseits des Atlantiks, in dem vor wenigen Wochen ein vom Volk direkt gewähltes Staatsoberhaupt zugleich die Regierungsverantwortung übernommen hat. Jeder Versuch, diese Herausforderungen je einzeln zu bewältigen, schafft mindestens so viele neue Probleme, wie damit angeblich gelöst würden. Wir Europäer werden nur durch das Teilen von Souveränität einen möglichst großen Rest von dem bewahren können, was früher die Nationalstaaten mit Erfolg reklamierten und heute allenfalls rückwärtsgewandte Zeitgenossen irrig für sich beanspruchen: unabhängig von anderen die eigenen Angelegenheiten selbständig regeln zu können. Deshalb brauchen wir die Union der europäischen Staaten, und wenn weder der amerikanische noch der russische Staatspräsident ein Interesse an einem starken Europa erkennen lassen, ist dies ein zusätzliches Indiz dafür, dass wir selbst dieses Interesse an einem starken Europa haben müssen.
Meine Damen und Herren,
demokratische Haltung erwächst in Deutschland mehr noch als irgendwo sonst aus dem Wissen um die Geschichte mit ihren Abgründen, aus dem verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Dazu haben unsere Bundespräsidenten, von Theodor Heuß an, wichtige Beiträge geleistet, als Seismographen des gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins und als Impulsgeber: Richard von Weizsäcker mit seiner Rede zum 8. Mai, Roman Herzog mit der Proklamation des 27. Januar zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, Horst Köhler und Christian Wulff mit ihren nachdrücklichen Hinweisen auf die Bedeutung Afrikas und des Islams für die Zukunftsperspektiven Europas und zuletzt Sie, Herr Bundespräsident, mit Ihrer Mahnung, historische Schuld nicht dazu zu benutzen, um dahinter – wie Sie es formuliert haben – „Weltabgewandtheit und Bequemlichkeit zu verstecken.“
Bequem ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nie – aber sie ist eine demokratische Tugend. „Nur wer mit sich selbst im Reinen ist, kann mit Sinn gestalten. Ähnlich sehe ich das bei einem Staat“: Das schrieb mir nach der diesjährigen Gedenkstunde im Bundestag für die Opfer des Nationalsozialismus ein 24-jähriger Student, berührt und „auch stolz“, wie er schreibt, angesichts des Willens zur Aufarbeitung unserer Geschichte. Keine Schwäche, wie manche behaupteten, sei das für ihn, betonte er, sondern „das exakte Gegenteil: Eine unserer größten Stärken.“ Und tatsächlich hat das erstaunliche Ansehen, das Deutschland heute in der Welt genießt, wesentlich mit unserem verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Gewaltgeschichte zu tun. Wer daran aus welchen Motiven auch immer rüttelt, muss wissen: Er gefährdet die internationale Reputation unseres Landes und er hat die überwältigende Mehrheit der Deutschen gegen sich.“