Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar
Klaus Mertes
„Wer ist mein Nächster?“ Diese Frage stellt sich nicht nur zu Jesu Zeiten, sondern immer wieder. Denn immer gibt es im Leben eines jeden Menschen solche, die mir näher sind als andere. Das ist die Basis von familiärer Zugehörigkeit, von Freundschaftskreisen und auch von Zugehörigkeit zu einem Volk. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter beantwortet die Frage nach dem Nächsten ja auch nicht philosophisch, sondern konkret: „Du kannst dich dem zum Nächsten machen, an dem Du gerade vorbeigehst.“ Und der kann auch ein Fremder sein.
1.
Im April dieses Jahres verlor erstmals ein AfD-Spitzenpolitiker sein Kirchenamt. Hintergrund der Entscheidung war die im Februar veröffentlichte Erklärung der Bischöfe in Deutschland mit dem Titel: „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“. Die Entscheidung stieß auf geteiltes Echo. Der stellvertretende AfD-Bundessprecher Stephan Brandner unterstellte den Bischöfen, in eine „Polithetze gegen die einzige Opposition einzustimmen“.
Stefan Brandner kommt selbst aus der katholischen Kirche und trat nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr aus. Vergleichbares gilt auch für manch andere Katholiken, die inzwischen prominent in der AfD tätig sind. So auch Maximilian Krah, ursprünglich AfD-Spitzenkandidat für Europa. In seinem Manifest „Politik von rechts“ schreibt er: „Die großen Kirchen, in Deutschland die evangelische und die katholische, sind mit theologisch-philosophischen Maßstäben nicht mehr zu beschreiben. Es handelt sich um staatlich finanzierte Vorfeldorganisationen des links-liberalen Mainstreams.“
Nicht alle gehen den Weg des Austritts, zum Beispiel Hans Christoph Berndt, Katholik und Oppositionsführer der AfD im Brandenburger Landtag. Beim Spitzenkandidaten-Check im RBB-Fernsehen nannte er als seine Definition des Begriffs der christlichen Nächstenliebe: „Sich um die Angehörigen des eigenen Volkes zu kümmern.“ Der Berliner Erzbischof Heiner Koch widersprach: Nächstenliebe gelte auch dem, „der … einen anderen Pass hat“.
2.
Die Auseinandersetzung um die AfD greift in die Gemeinden hinein, in die Schulen, in die Familien, in die Verbände, in die ganze Gesellschaft. Die Bischöfe definieren sie, wie der Titel ihrer Erklärung sagt, als Auseinandersetzung um den „völkischen Nationalismus.“ Sie sehen ihn als gegeben an, wenn „das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, religiöser Zugehörigkeit und kultureller Prägung … grundsätzlich in Frage gestellt“ wird; wenn also das „Volk“ als „Ethnos“, als „Gemeinschaft der ethnisch und kulturell Gleichen oder Ähnlichen“ gedacht wird, und nicht als „Demos“, das heißt „als Gemeinschaft der Gleichberechtigten, die auf der Grundlage der Menschen- und Bürgerrechte unsere Gesellschaft gemeinsam aufbauen und gestalten.“ Das völkische Denken ziele „fundamental auf Ab- und Ausgrenzung“. Es verenge das Solidaritätsprinzip. Nach mehreren Radikalisierungs-Schüben dominiere in der AfD inzwischen diese völkische Gesinnung, die sich „gegen Geflüchtete und Migranten, gegen Muslime“ und verstärkt „auch gegen Jüdinnen und Juden“ richte.
3.
Blicken wir ein wenig über das kirchliche Milieu hinaus. Wie zeigt sich der völkische Rechtsextremismus innerhalb des rechtspopulistischen Milieus? Volker Weiß berichtet in seinem Buch Die autoritäre Rechte. Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, (Stuttgart 2017) von einer Fachmesse der neu-rechten Verlage und Zeitschriften in einem „gediegenen Logenhaus” in Berlin Wilmersdorf im Oktober 2012. Karlheinz Weißmann, Stammautor der Jungen Freiheit, und Michael Stürzenberger von Politically Incorrect diskutieren zu dem Thema „Ist der Islam unser Feind?”
Das Gespräch nimmt eine entscheidende Wende, als es zwischen den beiden kontrovers wird. Der Rechtspopulist Stürzenberger, „formulierte eher assoziativ und vor allem emotional … Während der Debatte fuchtelte er mit dem Koran herum, verglich ihn mit Hitlers Mein Kampf und berief sich auf das Grundgesetz, die Gleichheit von Mann und Frau, die Freiheit und auf die westliche Gesellschaft.” Er fordert, die Muslime, die hierzulande leben, sollten dem Koran abschwören. Der Rechtsideologe Weißmann hört sich das schweigend an und lässt Stützenberger dann kühl auflaufen: Der Koran sei nur ein Epiphänomen des beduinisch-semitischen Trägervolkes. Dessen inneres Wesen bestehe darin, Beute machen zu wollen. Der Islam sei der Nutznießer dieser Tendenz, und zugleich Nutznießer des Niedergangs der abendländischen Kultur.
Dahinter stand die eigentliche These: Wir stehen in Deutschland nicht in der Auseinandersetzung mit einer Religion beziehungsweise vor einem Zusammenprall der Weltreligionen, sondern wir ringen um Fragen der „kulturellen und nationalen Identität”. Deren Verlust ist die Grundlage für die desolate Situation des Landes. Der Feind, das sei keineswegs der Islam, sondern die „individualistische, hedonistische westliche Form des Liberalismus.” Ein zustimmender Zwischenruf ertönt im Publikum: „An Liberalismus gehen Völker zugrunde, nicht am Islam!” – eine um den Islam ergänzte Formulierung, die auf Arthur Moeller van den Bruck zurückgeht, einen Vordenker der „konservativen Revolution“ in der Zeit der Weimarer Republik. Wer genauer wissen will, woher die Neue Rechte heute ihre Inspirationen zieht, muss nicht zuletzt in diese Zeit zurückgehen.
Das Wesen des völkischen Antiliberalismus ist also die Bestreitung des ethischen Universalismus. Man könnte auch sagen: Der „Liberalismus“ wird als ein Herrschaftsanspruch angesehen, der sich gegen die kulturelle oder ethnische Identität der Völker richtet. Dagegen hält der völkische Antiliberalismus fest: Die Völker haben kulturelle und ethnisch definierte Identität. Der Universalismus hingegen zerstört diese Identitäten. Er ist der „geistige Feind“ (Carl Schmitt) der unterschiedlichen Identitäten der Völker. Maximilian Krah hat diesen Gedanken in seinem „Manifest für eine rechte Politik“ klar wiederholt. „Ein gemeinsamer Wille kann angesichts der Verschiedenheit der Kulturen und Völker nicht gebildet werden … Die Idee einer universalen Ethik steht der Realität verschiedener Kulturen und Traditionen gegenüber … Die Liberalen wollen letztlich nur den Einzelnen und die Menschheit anerkennen.”
Solange die unterschiedlichen Völker und Kulturen in den ihnen von der Geschichte zugewiesenen Räume bleiben, sind die Identitäten nicht bedroht. Salopp formuliert: „Bleibt bei euch, und wir bleiben bei uns. Ihr könnt eure Frauen bei euch unterdrücken, nur tut es nicht bei uns.“ Der Andere wird „für uns“ erst dann zu einem Problem, wenn er zu uns kommt. So lässt sich übrigens auch gut erklären, warum AfD-Politiker massenhafte Ausweisung von „kulturfremden“ Personen aus dem eigenen Land fordern.
4.
„Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar.“ Den Bischöfen in Deutschland geht es hier um eine grundsätzliche Stellungnahme. Das schließt nicht aus, dass man über einzelne Fragen unter Christen streiten kann. Es sei an dieser Stelle auch darauf hingewiesen, dass die universalistische Rhetorik des Westens tatsächlich auch eine Schattenseite hat. Im globalen Süden ist sie als Rechtfertigungsideologie für westlichen Kulturimport in lebendiger Erinnerung.
Religionen sind aber, anders als von den „Völkischen“ behauptet, keine Epiphänomene volkstypischer Eigenschaften und Kulturen. Wer das sagt, greift den Monotheismus selbst an. Der Monotheismus ist für Christen die theologische Grundlage des ethischen Universalismus.
Und: Der Gott Israels ist der Gott aller Völker, und dies gerade nicht im polytheistischen Sinne, so als entstünde aus diesem Bekenntnis die Legitimation für ein Volk, sich als Herrenvolk über andere Völker zu verstehen. Daraus folgte spätestens für die Propheten des Exils ein Auftrag an „das Volk“ (Laos): Es sollte durch sein gelebtes Vorbild das Gesetz für alle „Völker“ (Ethne) sichtbar und attraktiv zu machen. Das ist die Vision der Völkerwallfahrt, die im Advent wieder zu hören ist: Die nicht-jüdischen Völker sagen: „Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn … Er unterweise uns in seinen Wegen … Er (der Herr) wird Recht schaffen unter den Nationen … Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden, und ihre Lanzen zu Winzermessern.“ Deswegen ist „Jakob“, also „das Volk“, aufgefordert, seine „Wege zu gehen im Licht des Herrn“ (Jes 2, 2-5). Diese Vision setzt voraus, dass es einen die Völker verbindenden Anspruch gibt, der universal gilt, also ein universal geltendes Gesetz. In dieser prophetischen Tradition steht Jesu Zusage: „Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf dem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben … Euer Licht soll vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Mt 5,14f)
Klaus Mertes sj (1954) ist Superior der Jesuitenkommunität in Berlin-Charlottenburg. Er hat Slawistik und Klassische Philologie in Bonn studiert und ist 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosophie und Katholische Theologie in München und Frankfurt a.M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem zweiten Staatsexamen für Katholische Religion und Latein war er Lehrer an der St.-Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen Rektor er von 2000 bis 2011 war. Von 2011-2020 war er Direktor des internationalen Jesuitenkollegs in Sankt Blasien. Klaus Mertes ist Redakteur der Kulturzeitschrift STIMMEN DER ZEIT und gehört dem Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944 an.