ZEITENWENDE IN EINER WELTWEITEN SCHICKSALSGEMEINSCHAFT

Alois Glück hält unsere heutige Art zu leben nicht für zukunftsfähig. Eine Rückkehr zur „Normalität“ von Gestern sei nicht möglich. Das Leitbild, der Kompass für zukunftsorientiertes Handeln müsse der Maßstab Nachhaltigkeit sein.

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Alois Glück

Zeitenwende in einer weltweiten Schicksalsgemeinschaft

Noch nie war so viel Veränderung in so kurzer Zeit und weltweit, wie gegenwärtig mit der Pandemie. Zukunftsfähig werden wir nur, wenn wir die Erfahrungen der Jahre 2020/21 gründlich studieren und daraus die richtigen Schlussfolgerungen konsequent ziehen. Meine Analysen und Schlussfolgerungen habe ich in 15 Thesen formuliert.

  1. Drei Entwicklungen prägen Gegenwart und Zukunft:
    – die Pandemie, die Problematik der Seuchen;
    – die Wucht der Klimakrise mit ihrem Preis für jahrzehntelange Ignoranz der   wissenschaftlich fundierten Daten und internationaler Übereinkommen wie den Pariser Vertrag;
    – die Digitalisierung, die alle Lebensbereiche durchdringt.
    Alle drei Entwicklungen sind durch weltweite Vernetzungen und Wechselwirkungen geprägt.
  1. Mit jeder dieser Entwicklungen sind neben den schwierigen Sachfragen auch viele schwerwiegende ethische Fragestellungen und Herausforderungen verbunden. Welche Werte, welche Maßstäbe bestimmen unser Handeln?

Immer wieder stellt sich die Frage nach der Würde des Menschen entsprechend Art. 1 Abs. 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das gilt für die Prioritäten im Gesundheitswesen ebenso wie für den weiten Bereich der Digitalisierung – von den sogenannten Sozialen Medien bis zur Entwicklung automatisierter Verfahren, etwa der künstlichen Intelligenz.

  1. Die Pandemie ist ein vielschichtiger Lernprozess.

Das Virus ist eine ständige Herausforderung für die Wissenschaft mit immer wieder neuen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen. Das gehört zum Wesen der Wissenschaften. Diese Entwicklungen, die immer wieder neuen Erkenntnisse und Korrekturen sind aber auch prägend für die öffentliche Debatte und für die Situation der Politik.

  1. Das Zusammenwirken von Wissenschaft und Politik hat eine bislang nie gekannte Intensität.

Die Politik muss sich auch auf diese Erkenntnisse stützen – und wird gleichzeitig mit den Lernprozessen, mit unterschiedlichen Positionen in der Wissenschaft konfrontiert.

  1. Die Pandemie, die Corona-Krise zeigt, wie wichtig, ja unersetzlich, der handlungsfähige Staat ist.

In Krisenzeiten ist ein starker Staat wichtig. Das bedingt, dass „die Politik“, die Parlamente und die Regierungen, entsprechend handlungsfähig sind.

  1. Entscheidungen der Politik wurden mehrmals von Gerichten auch aufgehoben.

Das ist ein wichtiger Vorgang – auch wenn mir manche Entscheidung nicht immer verständlich war. Warum erwähne ich diesen Sachverhalt? Die Überprüfung politischer Entscheidungen durch unabhängige Gerichte ist die Qualität des Rechtsstaates. Diese Erfahrung ist weit über das Thema Pandemie und Corona -Krise hinaus angesichts der aktuellen Entwicklungen auch in verschiedenen Ländern der Europäischen Union von ganz besonderer, grundsätzlicher Bedeutung. Eine wichtige Botschaft in der Zeit der Hochkonjunktur der Populisten.

  1. Hochkonjunktur der Verschwörungstheorien – eine Entwicklung, die wir bislang so nicht kannten und große Gefahren in sich birgt.

Eine Entwicklung zu Bündnissen vielschichtiger Kräfte, die eine Gefahr für unser Gemeinwesen und unseren Staat sind. Sie erfordern höchste Aufmerksamkeit der dafür zuständigen staatlichen Organe. Gleichzeitig ist darüber eine gründliche gesellschaftliche Debatte und Aufarbeitung notwendig. Warum diese Konjunktur von Verschwörungstheorien? Es wäre grob fahrlässig, wenn wir uns mit dieser Entwicklung nicht gründlich auseinandersetzen. Dann können wir auch bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen nicht verstehen.

  1. Ich habe die Sorge, dass wir wegen der vielen drängenden Fragen des Alltags und der Dynamik der Diskussion über den Klimawandel die Erfahrungen aus der Pandemie und der Corona-Krise nicht systematisch aufarbeiten. Eine allgemeine „Generaldebatte“ hilft uns nicht weiter.

Die sorgfältige Analyse in den verschiedenen Lebens-und Erfahrungsbereichen ist die für die richtigen und notwendigen Schlussfolgerungen, für die entsprechende Zukunftskompetenz. Das wird nur gelingen, wenn nach verschiedenen Themenbereichen und Lebensbereichen Arbeitsgruppen – oder Einrichtungen wie die politischen Stiftungen, Akademien, Verbände – systematisch diese Erfahrungen auswerten und Schlussfolgerungen als Empfehlungen für Entscheidungsgremien vorlegen. Das ist auch eine unverzichtbare Voraussetzung, damit die Politik im Bund, in den Ländern, in den Kommunen die notwendigen Konsequenzen ziehen kann.

Ich nenne nur beispielhaft:

  • Was waren-oder sind – da die Stärken und die Schwächen unseres Staates, der föderalen Struktur?
  • Welche Erfahrungen und Konsequenzen ergeben sich für die Kommunalpolitik?
  • Für die Arbeit der Gremien, die Kommunalverwaltung, die Beziehungen zu den Bürgerinnen und Bürgern?
  • Für die Entwicklungen in unseren Dörfern und Städten – etwa im Bereich Handel und Gewerbe?
  • Welche Erfahrungen und Entwicklungen sind für die Zukunft der ländlichen Räume bedeutsam?
  • Welche Erfahrungen, gute und kritische, gibt es im Gemeinschaftsleben? In unseren Vereinen, Gemeinschaften, im kulturellen Leben.
  • Welche kreativen Initiativen in den verschiedenen Bereichen sind für die Zukunft wertvoll und wichtig?
  • Welche Schlussfolgerungen ziehen wir aus den Erfahrungen für die Kinder und Jugendlichen? Es gibt zunehmend alarmierende Berichte über negative Auswirkungen als Folge der fehlenden Kontakte.
  • Ein besonders wichtiger Bereich sind die die Erfahrungen und notwendigen Schlussfolgerungen für unsere Schulen.
  • Was sind die besonderen Möglichkeiten und die deutlichen Grenzen der Kommunikation mit den verschiedenen Möglichkeiten der audiovisuellen Kommunikation?

9. Die Pandemie demonstriert uns, dass wir eine weltweite Schicksalsgemeinschaft sind!

Wir sind in einer neuen Etappe der Globalisierung! Bisher war Globalisierung für uns vor allem die Chance unsere Produkte auf den Weltmärkten zu verkaufen und damit unseren Wohlstand zu sichern – und Rohstoffe möglichst günstig einzukaufen. Welche Konsequenzen ergeben sich für unser Land aus der Realität weltweite Schicksalsgemeinschaft? Für unsere politischen Konzepte? Für unsere Wirtschaft? Welche Erfahrungen machen wir nun mit den weltweiten Netzwerken von Lieferketten nach dem Maßstab des jeweils günstigsten Standortes?

  1. Zu diesen Analysen gehört auch die ehrliche Auseinandersetzung über die hoch problematischen Entwicklungen im Globalisierungsprozess der Vergangenheit. Eine wesentliche Quelle vieler Konflikte!

Die Globalisierungsverlierer sind der Nährboden der Populisten ( Trump und Co.) und die Quelle vieler Konflikte. Einschließlich vieler Fluchtbewegungen. Diese wiederum nähren die Ängste vor Identitätsverlust und propagieren die Abschottung. Eine Rückkehr zu den Regeln der Globalisierung vor der Pandemie kann und darf daher nicht unser Ziel sein.

  1. Weltweite Schicksalsgemeinschaft – haben wir die Bereitschaft zur weltweiten Solidargemeinschaft?

Papst Franziskus hat mit seiner Enzyklika Laudato Si‘ – mit dem wunderbaren Leitbild der Sorge für das gemeinsame Haus – 2015 schon entsprechende Maßstäbe gesetzt. Schaffen wir diesen Schritt von der weltweiten Schicksalsgemeinschaft zur weltweiten Solidargemeinschaft? Als Konsequenz aus unseren Werten – oder wenigstens aus der Einsicht, dass nationale Alleingänge oder der Europäischen Union, keine Lösung bringen können. Eine herausfordernde Anfrage an unsere Werte. Wie schwierig trotz aller Fakten diese internationale Solidarität ist, zeigt sich beim Thema ausreichende Impfstoffversorgung für die armen Länder.

  1. Klimawandel: Weltweite Schicksalsgemeinschaft – das gilt ebenso für den Klimawandel und die Folgen! Aber, gegen den Klimawandel gibt es nicht die Perspektive der Schutzimpfung!

Der Preis für unsere Ignoranz gegenüber den wissenschaftlich fundierten Daten wird immer höher. Die Beschlüsse der Pariser Klimakonferenz dokumentieren wie lange schon die Fakten und Daten, die notwendigen Schlussfolgerungen bekannt sind.

  1. Der Maßstab für unser Handeln ist muss für unsere Kinder, Enkel, Nachkommen sein.

Das Bundesverfassungsgericht hat uns den entscheidenden Maßstab ins Stammbuch geschrieben. Die Debatte um den Klimawandel hat mir immer wieder gezeigt, dass Wissen allein, auch das Wissen über bedrohliche Entwicklungen, nicht genügt, um die Anstrengungen so großer Veränderungen auf sich zu nehmen. Dafür ist ein starkes ethisches Motiv notwendig.

  1. Wir sind in einem Wettlauf mit der Zeit!

Bislang haben die extremen Entwicklungen und Auswirkungen der Klimaveränderungen in anderen Regionen und Ländern, Hitzeperioden, großflächige Waldbrände, schmelzen der Gletscher usw. uns nicht zu wirksamen Handeln gebracht. Dabei sind wir längst in einem Wettlauf mit der Zeit. Nun haben die Verwüstungen durch den Starkregen und den neuen Prognosen viele aufgeschreckt. Der Klimawandel wird plötzlich zu einem zentralen Thema der politischen Debatte und der Bundestagswahlen.

15. Die Dimensionen dieser Zeitenwende machen vielen Menschen Angst. Wirkt das lähmend oder mobilisierend?

Wie können wir die Menschen dafür gewinnen, dafür motivieren, die Anstrengungen der notwendigen Veränderungen anzunehmen. Für den eigenen Lebensbereich und für das Handeln von Politik und Staat? Dafür ist die richtige Kommunikation von überragender Bedeutung.

In Krisenzeiten ist das Vertrauen in die handelnden Personen, in die Führung von ausschlaggebender Bedeutung. Das gilt in der Politik ebenso wie in einer Firma. Der Erfolg von gestern ist in Zeiten des Wandels ein falscher Wegweiser. Nur wer die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkennt und mit Führungsstärke handelt, kann eine gestaltende Kraft entwickeln. Vertrauen – das ist eine Verbindung von sachlich/fachlicher Kompetenz und Vertrauen in die Person. Dafür gibt es gerade auch im Zusammenhang mit der Corona-Krise überzeugende Beispiele.

Alois Glück (1940) war von 2009 – 2014 ist Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Von 1970 – 2008 war er Mit­glied des Bayerischen Landtags und dort 1988-2003 Vorsitzender der CSU-Fraktion und 2003 – 2008 Präsident des Landtages. Er ist Mitherausgeber von kreuz-und-quer.de

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