Stephan Eisel hält es für einen Widerspruch, jemanden vor der Volljährigkeit die uneingeschränkte Entscheidungshoheit über das eigene Leben zu verweigern, aber zugleich mit dem Wahlrecht die volle Entscheidungsgewalt über Fragen der Gesellschaft insgesamt zu übertragen.
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Stephan Eisel
Das Wahlalter gehört zur Volljährigkeit
Wahlen entscheiden in der freiheitlichen Demokratie über die Vergabe politischer Macht. Fragen des Wahlrechts sind deshalb auch Machtfragen und stehen in der Gefahr parteipolitisch instrumentalisiert zu werden – je nachdem von welcher Regelung sich wer bei Wahlen Vorteile verspricht. Das gilt auch für die Festlegung des Wahlalters.
Um dieser Gefahr vorzubeugen ist es wichtig, dass über die Grundregeln des Wahlrechts ein möglichst breiter Konsens besteht: Je breiter der Konsens desto geringer der Verdacht parteipolitischer Instrumentalisierung durch die jeweilige Mehrheit. Es ist deshalb wohl begründet, dass Wahlrechtsgrundsätze – darunter auch die Festlegung des Wahlalters – in Deutschland meist Verfassungsrang haben und nur mit einer 2/3 – Mehrheit geändert werden können.
Artikel 38 Abs. 2 des Grundgesetzes legt zur Wahlberechtigung für die Wahlen zum Deutschen Bundestag (und damit auch zum Europaparlament) fest: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“ Die Volljährigkeit wird im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt, wo es in Artikel 2 heisst: „Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein.“
Eine Absenkung des Wahlalters unter die Volljährigkeitsgrenze von 18 Jahren auf Landes- und Kommunalebene erfolgte bisher immer nur im parteipolitischen Streit und – mit Ausnahme von Brandenburg und Hamburg – nur dort, wo dies mit einfacher Mehrheit möglich war.
Wer die Festlegung des Wahlalters der parteipolitischen Instrumentalisierung entziehen will, braucht dafür ein möglichst breit akzeptiertes Kriterium. Hier hat sich national wie international die Volljährigkeitsgrenze durchgesetzt und bewährt. Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe:
- Der innere Zusammenhang zwischen Wahlalter und Volljährigkeit konkretisiert sich vor allem in der Frage, warum jemand über die Geschicke der Gesellschaft mitentscheiden soll, dem diese Gesellschaft die Volljährigkeit verweigert, weil sie ihn für noch nicht reif genug hält, seine eigenen Lebensverhältnisse selbstständig zu regeln.
- Eine Abkoppelung des Wahlalters von der Volljährigkeit führt zu völlig willkürlichen Altersgrenzen. So werden in der politischen Debatte die Altersgrenzen 16 Jahre, 14 Jahre oder 7 Jahre vorgeschlagen bzw. die Abschaffung jeder Altersgrenze gefordert. Ein nachvollziehbares Kriterium für die Festlegung einer bestimmten Altersgrenze unterhalb der Volljährigkeit ist nicht erkennbar.
- Die Abkoppelung des aktiven Wahlalters von der Volljährigkeit führt zwangsläufig zur Trennung von aktivem und passivem Wahlrecht. Für Minderjährige gibt es nämlich einen unauflösbaren Widerspruch zwischen der Freiheit des Mandats und der Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit durch den Jugendschutz und den Entscheidungsvorrang von Erziehungsberechtigten. Ohne passives Wahlrecht wird Wählern aber die Möglichkeit verwehrt, Vertreter ihrer eigenen Altersgruppe zu wählen.
Es ist widersprüchlich, dass Initiativen zur Senkung des Wahlalters nicht mit der Forderung nach einer Absenkung der Volljährigkeitsgrenze verbunden werden. Dadurch wird ein Prinzip aufgebrochen, das alle demokratischen Verfassungen in Deutschland zu etablieren suchten, dass nämlich Bürgerrechte wie das Wahlrecht und Bürgerpflichten zwei Seiten einer Medaille sind. Vornehmste Bürgerpflicht ist nämlich die Übernahme der vollen Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns wie sie mit der durch die Volljährigkeit gewährten vollständigen Entscheidungsfreiheit des Bürgers einsetzt. Das Wahlrecht als zentrales Bürgerrecht wird durch diese Bürgerpflicht legitimiert.
Dabei ist zu beachten, dass unsere Rechtsordnung zwischen Rechts- und Geschäftsfähigkeit unterscheidet: Von Geburt an sind Bürger rechtsfähig, sie können also beispielsweise Eigentümer, Steuerzahler, Aktionäre oder Erben sein. Aber erst mit der Geschäftsfähigkeit dürfen sie diese Rechte selbstständig auszuüben. Die unbeschränkte Geschäftsfähigkeit wird mit der Volljährigkeit erreicht. Davor nehmen die Erziehungsberechtigten ganz und mit zunehmendem Alter der Kinder schrittweise eingeschränkt deren Rechte wahr. Grundlegend dafür ist Art. 6 des Grundgesetzes, der die Erziehung von Kindern nicht nur als Recht, sondern auch als Pflicht von Eltern beschreibt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.”
Nach dem Jugendschutzgesetz (§ 1) sind dabei „Kinder Personen, die noch nicht 14 Jahre alt sind” und „Jugendliche Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind”. Auf dieser Grundlage legt unsere Rechtsordnung weitere differenzierte Altersgrenzen fest:
16-Jährige dürfen in Deutschland nach dem Straßenverkehrsgesetz Mofa fahren und mit 17 Jahren eine Führerscheinprüfung ablegen, aber nicht ohne Begleitung eines Erwachsenen ein Auto lenken. Sie dürfen in der Öffentlichkeit Bier trinken, aber keine hochprozentigen Alkoholika (§ 9 Jugendschutzgesetz). Ohne Begleitung Erwachsener dürfen sie Kinos, Diskotheken oder Gaststätte nur bis Mitternacht besuchen (§§ 4, 5 und 11 Jugendschutzgesetz). 16-Jährige können zwar ein Testament „errichten” (§ 2229 BGB), aber die uneingeschränkte Testierfähigkeit gilt erst ab der Volljährigkeit (§ 2247 BGB). Heiraten darf man zwar ab 16, aber nur wenn ein Familiengericht dazu die Genehmigung erteilt und der Ehepartner bereits volljährig ist. Mit Vollendung des 17. Lebensjahres kann man sich zwar als „Freiwillig Wehrdienstleistender“ bei der Bundeswehr verpflichten, wird aber dort bis zur Volljährigkeit nur ausgebildet und nicht eingesetzt.
Auch wenn bereits ab dem 7. Lebensjahr eine eng begrenzte beschränkte Geschäftsfähigkeit (§ 106 BGB) und bedingte Verschuldungsfähigkeit (§ 828 BGB) einsetzt, sind Kaufverträge, die von Jugendlichen unter 18 Jahren ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters geschlossen werden, nur wirksam, wenn sie aus Mitteln bezahlt werden, die ihnen vom gesetzlichen Vertreter oder mit dessen Zustimmung von einem Dritten überlassen worden sind. Dieser sog. „Taschengeldparagraph” (§ 110 des BGB) gilt bis zur vollen Geschäftsfähigkeit mit Erreichen des 18. Lebensjahres. Minderjährige haften auch nicht uneingeschränkt für Schäden, die sie anderen zufügen (§ 828 BGB). Grundsätzlich gilt als umgangssprachliche Übersetzung der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches bis zur Volljährigkeit: „Eltern haften für ihre Kinder”.
Teilweise wurde die Entscheidungsfreiheit von 16- und 17-Jährigen sogar in den letzten Jahren in breitem politischem Konsens durch die Anhebung von Altersgrenzen weiter eingeschränkt. So dürfen sie seit 2009 weder Zigaretten kaufen noch in der Öffentlichkeit rauchen (§ 10 Jugendschutzgesetz) und auch keine Sonnenstudios besuchen (§ 4 „Gesetz zum Schutz vor nicht-ionisierender Strahlung bei der Anwendung am Menschen”). Im Strafprozessrecht wurde im gleichen Jahr der besondere Schutz von Opfern und Zeugen durch Ausschluss der Öffentlichkeit ebenfalls von 16 auf 18 Jahre angehoben. Das am 18. Juni 2015 vom Deutschen Bundestag verabschiedete Präventionsgesetz hat die Altersgrenze für die Gesundheitsuntersuchungen im Kindes- und Jugendalter ebenfalls von 16 auf 18 Jahre angehoben. Auch sog. „Schönheitsoperationen“ oder Eingriffe wie eine Augenlaserkorrektur sind vor der Volljährigkeit ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten nicht möglich.
Ausgerechnet die Vollendung des 16. Lebensjahres als Grenze für das aktive Wahlrecht einzuführen, ist völlig willkürlich. Neben der Volljährigkeit ist im deutschen Rechtssystem nämlich am ehesten die Strafmündigkeit ab dem 14. Lebensjahr ein wesentlicher Einschnitt. Im § 19 des Strafgesetzbuches heißt es: „Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.” Auch das „Gesetz über die religiöse Kindererziehung” regelt (bereits in der Ursprungsfassung von 1921) in § 5: „Nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahrs steht dem Kind die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will.” Mit dem Erreichen des 16. Lebensjahres werden hingegen nur einige Einschränkungen des Jugendschutzes gelockert (z. B. Ausgang ohne Erwachsenenbegleitung bis 24 Uhr).
Wie willkürlich die Abkoppelung des Wahlalters von der Volljährigkeit ist, zeigt sich auch daran, dass sich Debatte einseitig auf das aktive Wahlrecht beschränkt. Vorschläge zur Absenkung des passiven Wahlalters sind nicht bekannt. Dennoch ist häufig das Argument zu hören, man müsse Jugendlichen durch die Absenkung des Wahlalters die Vertretung ihrer (wie auch immer definierten, vermeintlich gemeinsamen) eigenen Interessen ermöglichen. Die eigenständige Vertretung ihrer Interessen wäre freilich nur dann möglich, wenn minderjährige Jugendliche nicht nur wählen dürfen, sondern auch wählbar wären.
Immer wieder werden für und gegen die Senkung des Wahlalters Gründe angeführt, die im Blick auf das Wahlrecht keine Rolle spielen (sollten). Dazu gehören – unabhängig davon, ob sie überhaupt sachlich zutreffen – vor allem die Behauptungen,
- Jugendliche seien im Blick auf ihre Urteilsfähigkeit auch vor der Volljährigkeit reif genug bzw. zu unreif, an Wahlen teilzunehmen: Eine „Wahlreifebeurteilung” wird aber auch bei den Wahlberechtigten ab 18 Jahren nicht vorgenommen. Das Konzept eines nach Prüfung erteilten „Wahlführerscheins” ist demokratiefremd.
- minderjährige Jugendlicher hätten ein überdurchschnittlich hohes bzw. besonders geringes Interesse an Politik: In der Demokratie ist Politikinteresse allerdings keine Voraussetzung der Wahlberechtigung. Freiheitliche Demokratie akzeptiert das Recht der Politikferne ohne es mit einem Entzug des Wahlrechts zu sanktionieren.
- eine Senkung des Wahlalters würde die Wahlbeteiligung in die eine oder andere Richtung beeinflussen: Das demokratische Wahlrecht besteht jedoch unabhängig davon, ob es tatsächlich ausgeübt wird und was dies für die Wahlbeteiligung bedeutet.
Der Streit um diese Gesichtspunkte bestimmt zwar oft die Auseinandersetzung um das richtige Wahlalter, lenkt aber vom entscheidenden Thema ab: Nach welchen allgemein akzeptierten Kriterien kann das aktive und passive Wahlrecht frei von politischem Manipulationsverdacht festgelegt werden.
Eine Abkoppelung der Wahlberechtigung von der Volljährigkeit lässt sich nicht plausibel begründen. Es ist ein offenkundiger Widerspruch, jemanden vor der Volljährigkeit die uneingeschränkte Entscheidungshoheit über das eigene Leben zu verweigern, ihm aber zugleich die volle Entscheidungsgewalt über Fragen der Gesellschaft insgesamt zu übertragen. Vielleicht liegt darin auch der Grund dafür, dass in Meinungsumfragen selbst die betroffenen 16/17-Jährigen mehrheitlich eine Senkung des Wahlalters ablehnen.
Dr. Stephan Eisel (1955) war 2007 – 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, 1981/82 Bundesvorsitzender des Rings christlich-demokratischer Studenten (RCDS), 1983- 1992 zunächst als Redenschreiber und dann als stv. Leiter des Kanzlerbüros Mitarbeiter von Helmut Kohl und 1992 – 1998 Kreisvorsitzender der Bonner CDU. Seit 2010 ist er in der Konrad-Adenauer-Stiftung Projektleiter für „Internet und Demokratie“ sowie „Bürgerbeteiligung“. Er ist verantwortlicher Redakteur des Blogs für politisches Handeln aus christlicher Verantwortung kreuz-und -quer.de.