MAUERFALL AUS DER SICHT EINES NACHGEBORENEN

Marlon Brüßel ist zehn Jahre nach dem Fall der Mauer geboren und schildert zum 30. Jahrestag des Mauerfalls die Sicht des Nachgeborenen auf das historische Ereignis.

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Marlon Brüßel

Mauerfall aus der Sicht eines Nachgeborenen

Was soll ich als jemand, der hauptsächlich in diesem Jahrtausend gelebt hat, schon über mein persönliches Verhältnis zum Mauerfall und der deutschen Einheit sagen? Ich persönlich empfand es immer als angenehmer, nicht in der Bundes-haupt-stadt aufzuwachsen, sondern nur in der Bundesstadt.

Und sonst? Gerade meine Lehrer und Angehörigen haben sich immer bemüht, die Gefühlswelt der Zeitgenossen zu vermitteln. Und als Historiker kann ich die Zeit analysieren, kenne ich doch unzählige Fakten, Quellen und Impressionen, Zeitzeugen, Orte und vieles mehr, das eine breite Gefühlspalette von Teilung wie Einheit zeichnet. Der Moment des Mauerfalls ist dabei natürlich besonders markant.

Rational sind Fakten und Gefühle der Zeit verinnerlicht, aber emotional? Die Einwohner der neuen Bundesländer und ihre Eigenheiten wirken gelegentlich ein kleines bisschen befremdlich auf mich als Rheinländer. Wenn sie reden, klingt das für rheinische Ohren manchmal etwas komisch und ihr politisches (Wahl-)Verhalten regt genau wie ihr Verhältnis zum Rest der Republik hin und wieder zum angestrengten Nachdenken an. Aber gilt das alles nicht auch für die Bayern und andere?

Ein Gutes hat die Distanz zur Vergangenheit auf jeden Fall! Unbefangenheit. In meinem Kopf gibt es keine Schere, keine Mauer mehr. Mein primäres Kriterium zur Einordnung der Deutschen ist nicht mehr Ost/West. Ich assoziiere keine Bürger und keine Regionen mehr subjektiv mit der DDR. Wenn alle so denken würden, könnten wir in einigen Punkten der deutsch-deutschen Integration entscheidend weiterkommen:

1. Wir könnten aufhören, in „Wessis“ und „Ossis“ zu denken (ohne natürlich kulturelle Unterschiede zwischen Sachsen und Pfälzern zu leugnen). Das allein würde sicherlich schon den Zusammenhalt zwischen den deutschen Regionen stärken. Natürlich darf man nicht die bestehenden Unterschiede und Strukturgefälle ignorieren. Aber man kann Schwächen einzelner Regionen (z.B. der Lausitz oder des Ruhrgebiets) gezielter und bedarfsgerechter angehen. Dass wenig Ostdeutsche in Führungspositionen zu finden sind, muss ebenfalls dadurch überwunden werden, dass wir die Unterscheidung vergessen, und nicht durch affirmative action, die eine Spaltung nur noch weiter vertieft. Insgesamt müssen sowohl Gefühle der Vernachlässigung oder des Abgehängtseins einer ganzen Gruppe von Bundesländern als auch die Ressentiments und die Tendenz zum Vernachlässigen durch den Rest der Republik überwunden und durch sachgerechtere, zielgenauere Beurteilung ersetzt werden.

2. Wir könnten ehrlich darüber sprechen, dass einerseits sicherlich auch Fehler bei der Wiedervereinigung begangen wurden genau wie andererseits manche schmerzhafte Maßnahme vielleicht richtig und sinnvoll war.

3. Wir könnten einstimmig anerkennen, dass die DDR ein diktatorischer und unfreier Unrechtsstaat war, der seine Bevölkerung unterdrückt, vernachlässigt und ausspioniert hat, ohne dass Millionen das Gefühl haben, ihre individuelle Biographie oder Familiengeschichte werde diskreditiert.

4. Wir könnten in unserem öffentlichen Geschichtsverständnis unbefangener die Rollenverteilung der Besatzungsmächte, der Bundesregierung und der DDR-Bevölkerung bei Mauerfall und Wiedervereinigung abwägen.

Das alles ist wohl leider keine bloße Frage der Zeit und des emotionalen Vergessens, sondern wird vermutlich eine Aufgabe meiner Generation und der nachfolgenden sein, die auch uns noch Kraft kosten wird. Denn die Besatzung, der Kalte Krieg und seine Abwicklung haben so tiefe Spuren in unserem Land hinterlassen, dass sie längst noch nicht geheilt sind. Doch die oben formulierte Hoffnung bleibt, dass die Nachgeborenen so unbefangen davon sind, dass sie dieses Kapitel irgendwann endlich werden schließen können.

Schonmal ein Anfang, aber so richtig emotional ist das immer noch nicht, oder? Bei aller berechtigten methodischen Kritik können vorsichtig beantwortete historische Was-wäre-wenn-Fragen hin und wieder zumindest der Veranschaulichung eines Umstands dienen – und sei es nur die der Geisteshaltung des Antwortgebers. In diesem Sinne: Was wäre, wenn nach dem Mauerfall eine Koexistenz zweier demokratischer Staaten deutschen Ursprungs vereinbart worden wäre? Was wäre, wenn die ehemalige DDR ebenso wenig zum deutschen Nationalstaat zurückgekehrt wäre, wie die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze, die schon vor der NS-Zeit deutsch gewesen waren? Dann hätte ich wahrscheinlich zu Dresden ein ähnliches Verhältnis wie zu Breslau… oder meinetwegen zu Mailand. Auch wenn ich die jeweiligen Landessprachen unterschiedlich gut beherrsche, käme ich nie auf die Idee, sie deutsch zu nennen oder gar mit dem heutigen Deutschland „wiedervereinen“ zu wollen.

Aber zum Glück ist es nicht so gekommen! Zum Glück ist die ehemalige DDR Teil des heutigen Deutschlands. „Zum Glück“, denn ich bin nicht nur rheinischer und europäischer, sondern eben auch deutscher Patriot und habe jeden Landesteil der modernen Bundesrepublik gerne dabei (außer vielleicht Düsseldorf;-). Und weil es wichtig und gut ist, wie die neuen Bundesländer das Land bereichern – man denke nur an Städte wie Dresden oder Weimar, aber natürlich auch Ost-Berlin, die eine enorme kulturelle und historische Relevanz besitzen. Ich freue mich, dass die „alte“, die Bonner Republik ihr Wertesystem, ihre Freiheit, ihren Rechts- und Sozialstaat, ihre Wirtschaft, ihre Gesellschaft und ihre Herzen geöffnet hat, um in einem gemeinsamen, unheimlichen Kraftakt den (so ist es mir zumindest überliefert) unbedingten Einheitswillen eines erheblichen Großteils der Deutschen zu verwirklichen.

Marlon Brüßel (1998) studiert Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und ist Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung. Aktuell forscht er zu Fragestellungen des Kalten Krieges und arbeitet am Lehrstuhl Prof. Dr. Becher sowie im Sonderforschungsbereich 1167 „Macht und Herrschaft“.

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