WIEDERVEREINIGUNG – EINE (ZWISCHEN)BILANZ

Christian Hirte sieht im Blick auf politische Kultur und wirtschaftliche Entwicklung Unterschiede zwischen Ost und West, die sich auch, aus dem erbe der SED-Diktatur erklären.

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Christian Hirte

Wiedervereinigung – eine (Zwischen)Bilanz

28 Jahre liegt die Wiedervereinigung nun zurück. 28 Jahre, in denen sich zwei ehemals getrennte Staaten zu einem gemeinsamen Land entwickelt haben. Oder hat uns die Situation in Chemnitz nach dem 26. August 2018 gezeigt, dass die Einheit doch nicht vorangeschritten ist, wenn im Nachgang zuerst ein ganzes Bundesland und schließlich „der Osten“ als demokratiefeindlich bezeichnet werden?

Was war geschehen? Ein Mann wurde in Chemnitz im Streit mehrfach mit einem Messer attackiert und erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus. Als bekannt wurde, dass es sich bei den Tatverdächtigen um einen Iraker und einen Syrer handelte, formierten sich „Trauerzüge“ durch die Stadt. Aufgerufen hatte mit Kaotic Chemnitz eine Ultra-Fan-Gruppierung des Chemnitzer FC, um zu „Zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat“. Darauf folgten am 27. und 28. August Demonstration mit mehreren tausend Teilnehmern, bei denen rechte Parolen gebrüllt und der Hitlergruß gezeigt wurde. Um eines ganz deutlich zu sagen: Wer sich so wie in Chemnitz rechtsextrem äußert, der hat den Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlassen. Und auch wer sich damit gemein macht, hat dafür Null Verständnis verdient.

Kann also davon gesprochen werden, dass die Bilanz der Wiedervereinigung ernüchternd ausfällt, angesichts offener Ablehnung der bundesdeutschen Demokratie? Das geht sicherlich zu weit. Die neuen Länder ticken politisch etwas anders als die übrige Republik. Das ist nicht erst seit Chemnitz bekannt. Diejenigen, welche unsicher sind, wohin sich die Gesellschaft und der Staat entwickeln, dürfen wir aber nicht abschreiben. Vielmehr müssen wir den Dialog mit allen suchen, die sich im Rahmen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung äußern und beteiligen wollen. Dabei sind viele im Osten kritischer als in den alten Bundesländern. Diesen Diskurs müssen wir aber führen.

In den neuen Bundesländern zeigen sich zum Beispiel bei Bundestagswahlen Trends, die erst mit Verzögerung im Westen aufgetaucht sind. Die „Treue“ zu einer bestimmten Partei war im Osten schon immer geringer. Zwischen den Bundestagswahlen änderte sich die Parteipräferenz deutlich häufiger als im Westen. Diese Volatilität ist mittlerweile auch in den alten Bundesländern gestiegen.

Gerade 40 Jahre DDR haben das politische Denken in der Hinsicht geprägt, dass den Parteien eine stärkere Skepsis, ja fast kontinuierliches Misstrauen, entgegenschlägt. So war die SED gerade nicht Partner der Bevölkerung, sondern bevormundender Unterdrücker. Dieses Misstrauen hat sich ein Stück weit auf die neue Staatlichkeit der wiedervereinten Bundesrepublik übertragen.

Für den politischen Diskurs muss eine gewisse Distanz zur Politik kein Schaden sein. Vielmehr kann sie in einem offenen Diskussionsprozess neue Perspektiven eröffnen, in dem sie die Politik in ihren Erklärungsmustern und Handlungsweisen fordert. Fordert in dem Sinn, allen denen das politische Geschehen zugänglich zu machen, die sich nicht Tag ein Tag aus damit beschäftigen. So ist es auch für uns in der Politik eine Aufgabe, nicht in der eigenen Wahrnehmung zu verharren.

Wirtschaftlich wurden blühende Landschaften angekündigt. Mit dem blumigen Ausruf unseres Kanzlers der Einheit, Helmut Kohl, haben viele ein umgehendes Wirtschaftswunder Ost erwartet. Die Treuhand ist in den Neunziger Jahren für den vermeintlichen Niedergang und das Verpassen der blühenden Landschaften verantwortlich gemacht worden. Häufig zu Unrecht. 40 Jahre Planwirtschaft hatten ihre Spuren hinterlassen, die DDR Kombinate konnten vielfach nicht zu Bedingungen des Weltmarkts produzieren. Das lag weniger am Personal, welches oft gut ausgebildet war, sondern am Verschleiß der Anlagen, dass in 40 Jahren zu wenig Innovation und Weiterentwicklung erfahren hatte.

Heute ist die wirtschaftliche Situation deutlich besser. In weiten Teilen haben wir die blühenden Landschaften erreicht. Sicher, Löhne sind nicht auf westdeutschem Niveaus. Aber auch im Westen gibt es erhebliche Unterschied, etwa zwischen Ballungsräumen wie München oder Stuttgart und ländlichen abgelegenen Regionen. Die Unterschiede innerhalb des Westens sind größer als wischen Ost und West.

Der Osten ist wirtschaftlich deutlich kleinteiliger strukturiert. Großkonzerne in der Dimension von Siemens, VW oder Daimler gibt es nicht. Stattdessen dominieren kleine und mittelständische Betriebe mit wenigen Mitarbeitern. Auch darin muss man nicht nur die Nachteile sehen. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen sind deutlich flexibler, wenn es etwa darum geht, auf Mitbewerber oder Krisen zu reagieren. In den oftmals inhabergeführten Unternehmen ist die direkte Verantwortung des Eigentümers deutlich größer, als in Aktiengesellschaften. Es wird häufig in Generationen und nicht in Quartalen gedacht.

Wie sieht die Bilanz nach 28 Jahren also aus? Beide ehemaligen Teile haben sich aufeinander zu bewegt, auch wenn sie nicht gleich geworden sind. Das werden sie vermutlich auch nie sein. Dazu sind die Unterschiede innerhalb Deutschlands schlicht zu ausgeprägt. Damit sollen die Einheitsbestrebungen keineswegs ad acta gelegt werden. Vielmehr bedarf es eines realistischen Blickes, was wir erreichen können. Das Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse bleibt bestehen.

Ein Beispiel ist der Strukturwandel in der Lausitz. Wenn wir uns gesellschaftlich entscheiden, den Abbau der Braunkohle zu beenden, werden daraus wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen erwachsen. Hier kann und muss die Politik einen Beitrag leisten, diese Transformation erträglicher zu machen. Sei es durch Projekte der Infrastrukturförderung, um die Region besser anzubinden und so die Attraktivität für Unternehmen zu steigern oder durch Förderungen der touristischen Entwicklungen. Dabei gibt es nicht den einen Königsweg, der ohne Probleme abläuft. Es wird Veränderungen für die Menschen vor Ort geben, die den Alltag verändern werden.

Genauso wie der Strukturwandel in der Lausitz eine Aufgabe sein wird, die von Politik, Wirtschaft und vor allem der Bevölkerung selbst getragen wurde und wird, so verhält es sich im Großen mit dem Projekt Deutsche Einheit. Im Miteinander der Ebenen kann ein positiver Beitrag entstehen, nicht im Gegeneinander. Dazu gehört es eben auch, nicht nur die Unterschiede zwischen Ost und West immer neu zu beleben, sondern auf das zu schauen, was wir bisher erreicht haben.

Christian Hirte (1976), Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht, seit 2008 MdB im Umwelt-, Tourismus und Haushaltsausschuss. Jan-März 2018 stv. Fraktionsvorsitzender, seitdem Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie und Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Länder sowie den Mittelstand.

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