Zur Lage von CDU und CSU

Der ehemalige Generalsekretär der CDU und langjährige Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz äußert sich im Interview mit T-Online ausführlich zur Lage von CDU und CSU.

Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.

kreuz-und-quer.de dokumentiert:

Ruprecht Polenz
Zur Lage von CDU und CSU

Interview von t-online mit dem früheren CDU-Generalsekretär
Das Interview führte Jonas Schaible auf T-Online.

Herr Polenz, die Regierung steht vor dem Aus, und vieles dreht sich um Angela Merkel, von der Kritiker sagen, sie habe die Union entkernt, nur deshalb habe die AfD wachsen können. Deshalb müsse die Union jetzt härter und konservativer werden. Ist Angela Merkel eigentlich eine konservative Politikerin?

Ruprecht Polenz: Nein, sie ist eine Christdemokratin – aber die CDU war auch nie eine konservative Partei, son­dern eine christdemokratische. Das Konservative will das Bewährte bewahren. Das Christdemokratische hat einen Veränderungsauftrag. Es drängt auf eine gerechtere Welt.

Aber das Konservative ist doch Teil der Christdemokratie.

Ja, aber Christdemokratie ist mehr als die Summe ihrer Teile. Ihr Kompass entsteht durch eine Synthese aller Strömungen: der liberalen, der sozialen und der konservativen.

Sie bestreiten also die Diagnose, dass keiner mehr weiß, wofür die Union steht, und dass sie deshalb konser­vativer werden muss?

Würden wir mehr über große Linien reden, wäre angebliche Konturlosigkeit gar kein Thema. Wegen der Komple­xität und der Vielfalt der Fragen spricht Politik leider zu viel über die kleinen Schritte.

Dann los: Für welche großen Linien müsste die Union stehen, um sich heute noch als eigenständige, starke, zeitgemäße politische Kraft zu behaupten?

Die CDU war immer eine Europapartei. Wir müssen den Multilateralismus verteidigen. Nationale Alleingänge schaden. Aktuell brauchen wir das vereinigte Europa dringender denn je. Russland will Europa spalten. China führt Verhandlungen mit EU-Staaten, ohne dass die EU mitspricht. Unter Trump lehnen die USA sogar die Idee ab, dass wir gemeinsam an einer Weltrechtsordnung arbeiten.

Was an den USA liegt, weniger an Deutschland oder gar der CDU/CSU, über die wir hier sprechen.

Es hilft nicht, dass die EU so schwach ist. Auch in Deutschland beurteilen wir EU-Gipfel nur noch danach, ob et­was für uns dabei rumgekommen ist. Das treibt die EU auseinander.

Wer Europa auch schwächt, ist Viktor Orban. Sollte die Union auf Distanz gehen, den Ausschluss seines Fi­desz aus der EVP betreiben?

Ja. Was Orban sagt und tut, ist mit Politik der Union nicht unter einen Hut zu bringen. Wenn man den Fidesz trotzdem in der EVP lässt, muss man das deutlicher anprangern.

Fehlt der Union in der Asylpolitik auch der europäische Kompass?

Viele in der Union halten Dublin immer noch für eine super Regelung. Sie erkennen nicht, dass damit alle Proble­me allein auf die Länder an der Außengrenze abgewälzt werden. Nur gemeinsam können wir in der EU offene Binnengrenzen erhalten.

Wollen das überhaupt noch alle in der Union?

Kürzlich sagte Andreas Scheuer ein Treffen mit dem österreichischen Verkehrsminister ab, weil Österreich zum Schutz seiner Straßen nur begrenzt Lkw durchlässt. Da sieht man, welches Interesse Deutschland an offenen Grenzen hat.

Wie könnte eine europäische Lösung aussehen?

Ohne wirksame Kontrolle der Außengrenzen geht es nicht, dafür brauchen wir gemeinsame Einwanderungs- und Asylregeln. Die EU muss den Ländern helfen, die freiwillig oder wegen ihrer Geografie besondere Verantwortung übernehmen. Das Geld dafür muss die EU bezahlen – wer nicht mitmacht, wird Geld abgeben müssen.

Wir kommen gleich nochmal zu diesem zentralen Thema. Reden wir zunächst noch über eine positive Visi­on: Wofür müsste die Union noch stehen?

Die größte Ungerechtigkeit, die jeder Mensch erlebt, ist die Lotterie der Geburt. Weil man sich nicht aussuchen kann, welches Los man zieht. Auch innerhalb Deutschlands gibt es Ungleichheiten. Die kann man nur in den ers­ten Lebensjahren beheben. Wir müssen also wesentlich mehr in die Kindergartenzeit und die Grundschule inves­tieren. In den sozialen Brennpunkten brauchen wir die allerbesten Kindergärten und Grundschulen.

Erstens, Westbindung und Europa; zweitens: frühkindliche Bildung; einen dritten Punkt noch: Wofür müsste eine zeitgemäße Union im Kern stehen?

Für die soziale Marktwirtschaft. Wir haben Unternehmen im Blick, bei guten Steuereinnahmen müssen wir aber auch die Mittelschicht entlasten. Im Unterschied zur FDP müssen wir aber deutlich machen, dass die Fähigkeit, Leistung zu erbringen, von Voraussetzungen abhängig ist, die der Einzelne nicht schaffen kann.

Von der FDP haben Sie sich eben abgegrenzt. Mit Ihren Forderungen werden Sie aber vor allem in der SPD und bei den Grünen nahezu keinen Widerspruch ernten.

Warum auch?

Es könnte der Profilierung der Union helfen?

Man darf Politik nicht mit Markenartikeln verwechseln. Man muss von seinen Grundüberzeugungen ausgehend fragen, was sich ändern sollte. Man darf nicht erschrecken, wenn andere, die von ganz anderen Grundüberzeugun­gen ausgehen, zu denselben Schlüssen kommen. Im Gegenteil: Man braucht ja sowieso Partner.

Viele fordern genuine Unionspolitiken, die Identität stiften können.

Diese krampfhafte Suche nach Unterschieden stört mich. Ich bezweifle auch, dass das die Menschen überzeugt. Im Kern politischen Denkens stehen die Bedürfnisse der Menschen, nicht Unterschiede zu anderen Parteien.

Dass Ihre christdemokratische Überzeugungen in zentralen Fragen zu den gleichen Schlussfolgerungen führen wie Grüne oder sozialdemokratische Überzeugungen – war das immer schon so, oder hat sich die Welt verändert?

Wir erleben im Augenblick eine durchgreifende Veränderung unseres politischen Koordinatensystems. Das alte Rechts-Links-Schema entstand in der Zeit der industriellen Revolution; es dreht sich um die soziale Frage, um Privateigentum, um materielle Ungleichheit. Im 21. Jahrhundert ist wichtiger geworden, wie man es mit der Glo­balisierung hält.

Was tritt an die Stelle der alten Koordinaten?

Die Pole, an denen sich das neue System orientiert, sind offen/liberal/global auf der einen Seite, und geschlossen/autoritär/national auf der anderen. Für die Unionsparteien ist das ein Problem: Im alten System waren CDU und CSU sehr dicht beieinander. Im neuen System sind kleine Teile der CDU und die Mehrheit der CSU nä­her am geschlossenen Pol, größere Teile der CDU und wenige in der CSU näher am offenen.

Man könnte versuchen, die Wirksamkeit dieses neuen Koordinatensystems zu schwächen, indem man Kon­flikte betont, die nach der alten Logik funktionieren.

Das halte ich für eine Illusion. Die Wucht der Globalisierung ist enorm, von der Migration über den technologi­schen Wandel durch internationale Arbeitsteilung bis zur wachsenden Veränderungsgeschwindigkeit durch weltweiten Informationsaustausch. All das verändert unsere Lebenswirklichkeit. Unsere Gesellschaften können zerreißen, wenn wir keinen politischen Rahmen finden, um die Entwicklungen zu bremsen. Würde Marx heute leben, würde er darüber schreiben.

Interessanter Maßstab, um die Wucht von Veränderungen zu bemessen.

Marx war ein großer Beobachter der Welt.

Marx würde also sagen, die neuen Konflikte bleiben. Also müssen sich die Parteien verändern.

Es gibt zwei Möglichkeiten. Die wahrscheinlichere Option ist, dass sich die Parteien durch schmerzhafte Diskus­sionen und den Verlust einiger Mitglieder im Kern erhalten und ihre Position im neuen System neu bestimmen. Die Alternative ist: Es könnte die Parteien zerreißen. Sie schaffen die Neuausrichtung nicht, es bilden sich neue Parteien, die alten Parteien spalten sich.

Wie wird sich die Union ausrichten? Auf welcher Seite der Konfliktlinie wird sie stehen? Wird sie sich spal­ten?

Der christliche Ansatz lehnt Abschottung und Ausgrenzung ab. Er sucht die Antwort im Miteinander, nicht im Gegeneinander. Er überfordert die Menschen aber auch nicht. Damit ist beschrieben, wie sich die Union orientie­ren muss.

Also eher auf der liberal-offen-pluralistisch-internationalen Seite.

Ja, aber eine Partei, die Richtung offen tendiert, ist deshalb nicht gleich dafür, dass die Grenzen für alle geöffnet werden, die gern bei uns leben würden. Wir müssen helfen, Armutsprobleme anderswo zu lösen. Da gibt es Ziel­konflikte: Was geben wir an Entwicklungshilfe und was geben wir in unsere Kindergärten? Das muss man austa­rieren.

Wenn Sie Recht haben mit ihrer Beschreibung, halte ich es für ausgeschlossen, dass auf Dauer zwei Partei­en zusammenarbeiten können, die auf verschiedenen Seiten der Konfliktlinie stehen. Wo die CDU stehen soll, haben Sie beschrieben. Mit Blick auf die vergangenen Wochen muss man sagen: die CSU steht woan­ders. Für mich klingt das nach dem logischen Ende der Union.

Ein Ende der Union wäre entsetzlich. Man darf die CSU aber auch nicht nach dem beurteilen, was sie in Berlin sagt. Oder von München aus Richtung Berlin. Integration im Alltag funktioniert in Bayern besser als in den meis­ten anderen Bundesländern. Weil die CSU dort eine pragmatische Politik macht, bekommt sie so viele Stimmen.

Sieht das die CSU auch so?

Ich denke schon. Die Politiker, die für die CSU in Kommunen arbeiten, wissen das jedenfalls genau. Natürlich ist auch in Bayern die Diskussion um Flüchtlinge sehr dominant geworden, aber in der Breite ist die Partei dadurch nicht abgebildet. Die CSU-Spitzen äußern sich gerade allerdings in einer Form, die ich für falsch halte.

Auch für politisch unklug?

Es war nicht hilfreich, dass die CSU den Streit über die Flüchtlingspolitik zwei Jahre befeuert hat. Damit hat sie das Thema in den Schlagzeilen gehalten. Das trägt zur Hysterie bei. Durch den ewigen Streit wird außerdem über­sehen, wie viel sich seitdem geändert hat. Flüchtlingsbewegungen werden viel stärker kontrolliert.

Verstehen Sie, warum die CDU nie ernsthaft den Versuch unternommen hat, das zu kommunizieren und damit den Eindruck zu zerstreuen, es gebe noch „Merkels Flüchtlingspolitik“ der offenen Arme und offe­nen Grenzen?

Man darf keinen Zweifel daran lassen, dass man für politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge hilfsbereit zur Ver­fügung steht. Man muss aber kommunizieren, dass man aus der Zeit vor 2015 gelernt hat. Man wusste seit 2012, dass die Hilfe für Nachbarstaaten Syriens an Grenzen kommt, und dass das Dublin-System unter Stress zusam­menbrechen würde, weil es unfair ist. Nur weil man nichts änderte, spitzte sich alles so zu.

Die CSU will nun aber genau das: Zurück in die Dublin-Welt. Markus Söder hat den Multilateralismus für gestrig erklärt. Die Kanzlerin stemmt sich dagegen und sagt, wenn Europa jetzt seine Werte aufgebe, gehe das System kaputt, das Europa stark gemacht habe. Wie bewerten Sie die Haltung der CSU?

Mich würde interessieren, was der überzeugte Europäer Franz-Josef Strauß dazu gesagt hätte.

Verstehen Sie Horst Seehofer?

Söder hat ihn aus der bayerischen Staatskanzlei verdrängt. Er sitzt ihm im Nacken und treibt ihn rhetorisch vor sich her. Im Grunde hat Seehofer sich selbst und nicht Merkel ein Ultimatum gestellt. Das würde er merken, wenn er den angekündigten Alleingang macht, Merkel ihn entlassen muss und er auf einmal ohne jedes Mandat dasteht. Er bliebe dann auch nicht mehr lange CSU-Vorsitzender.

Nochmal die Frage: Für wie wahrscheinlich halten sie die Spaltung der Union?

Ich denke, sie wird vermieden. Die CSU wird an der letzten Ausfahrt erkennen, dass es sonst mit ihr steil bergab ginge.

Ist auch Angela Merkel schuld an der Eskalation?

Es geht ja nicht mehr um mögliche Fehler in der Krisensituation der Jahre 2015/16. Die Fehler wurden 2011 ge­macht, als noch Zeit für eine tragfähige europäische Lösung war. Merkel hat inzwischen eingeräumt, dass es ein Fehler war, stur auf Dublin zu bestehen und damit die Südländer allein zu lassen. Was die Eskalation mit der CSU angeht: Sie hat die CSU-Angriffe mit erstaunlicher Ruhe ertragen. Sinnbild dafür ist die demütigende Behandlung durch Seehofer auf dem CSU-Parteitag.

Die CSU-Führung versucht offensichtlich, die Union für weit rechts stehende Wähler attraktiv zu machen. Haben Sie das Gefühl, das gelingt, ohne vor allem sprachliche gefährlich nahe an das Ressentiment heran­zurücken?

Dass viele in hilfsbedürftigen Flüchtlingen eine Bedrohung sehen, hängt mit Begriffen wie Flüchtlingsflut, Flücht­lingslawine, Flüchtlingswelle zusammen. Die AfD hat die Sprache weit über Anhänger hinaus verändert. Man spricht über Flüchtlinge wie über Naturkatastrophen, vor denen man sich schützen muss. Wir wissen aus der For­schung, dass alle Informationen davon beeinflusst werden, wenn sich solche Bilder erst einmal festgesetzt haben. Davon müssen wir wegkommen.

Wo müssen diese Versuche, die Union weiter nach rechts oder in Richtung Geschlossenheit zu schieben, spätestens enden?

Letztlich unterscheidet uns das Menschenbild von der AfD. Wir empfinden: Die Würde des Menschen ist unan­tastbar, und zwar die Würde jedes Menschen. Dagegen macht die AfD implizit Unterschiede bei der Menschen­würde. Wir – und die anderen. Das ist eine sehr klare Grenze.

Das heißt für mögliche Kooperationen, in den Ländern oder Kommunen?

Eine Zusammenarbeit mit der AfD ist völlig ausgeschlossen. Das darf für die Union nicht in Frage kommen.

Bleibt die Gretchenfrage: Wie integriert man dennoch nach rechts?

Umfragen zufolge sind in fast allen Gesellschaften konstant bis zu 15 Prozent der Menschen offen für Rechtsex­treme. Wichtig ist, dass es nicht mehr werden. Dazu muss die offene Gesellschaft Probleme lösen, gerade wirt­schaftliche. Wir müssen aber auch auf unsere Sprache achten und müssen an unseren Werten festhalten. Der His­toriker Yuval Harari sagt, den Menschen macht aus, dass er über große Entfernungen in vorgestellten Ordnungen zusammenarbeiten kann. Diese Ordnungen wirken nur, solange man an sie glaubt. Wir müssen also die Prinzipien unserer liberalen Ordnung hochhalten: Menschenrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Demokratie, Minderheiten­schutz und Verantwortung für eine gerechtere Welt.

Ruprecht Polenz (1946) war von 1994 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages und dort zuletzt von 2005 – 2013 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschuss. Im Jahr 2000 nwar er Generalsekretär der CDU Deutschlands.

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