Klaus Mertes SJ beschreibt die Ungerechtigkeit des aktuellen Steuerrechts für Allein-Erziehende und plädiert dafür, das Familiensplitting auf den Prüfstand zu stellen.
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Klaus Mertes SJ
ALLEIN-ERZIEHENDE HEUTE
Neben den „Fremden“ stehen in der Bibel die „Witwen und Waisen“ besonders im Zentrum der sozialpolitischen Aufmerksamkeit der Tora. „Witwen“ und „Waisen“ sind nicht bloß nebeneinander stehende Menschengruppen. Vielmehr sind sie in einer patriarchalischen Gesellschaft durch die Tatsache verbunden, dass der Ernährer fehlt. Kinder sind „Waisen“, wenn der Vater fehlt. Die „Witwe“ bleibt als „Alleinerziehende“ zurück. Man könnte also auch sagen, dass es in der biblischen Tradition eine besondere Aufmerksamkeit für Alleinerziehende gibt.
Eine vergleichbare Aufmerksamkeit wird Alleinerziehenden in der heutigen sozialpolitischen Debatte nicht zuteil, wenn man einmal absieht von ziemlich realitätsfernen Vorschlägen wie denen, die Grunderwerbssteuern zu senken, wovon angeblich dann auch Alleinerziehende profitieren würden – so ein FDP-Politiker kürzlich in einer Talk-Show. Welche alleinerziehende Frau (in der Mehrheit sind es ja Frauen, die allein erziehen) hat schon ein Eigenheim oder ein vergleichbares Eigentum? Auch die Empfehlung, Vollzeit zu arbeiten, geht am realen Leben vorbei. Die meisten Alleinerziehenden kämpfen um das tägliche Überleben zwischen den Anforderungen der Kindererziehung und dem Minimum an Teilzeitarbeit, das sie leisten müssen, um Miete und Grundversorgung zu bezahlen. Das wird durch die Einführung von Ganztagsschulen und Nachmittagsbetreuung nur teilweise aufgefangen, und kann auch nur teilweise dadurch aufgefangen werden. Die Politik hat sich weit von der sozialen Wirklichkeit entfernt, wenn sie das Thema auf dieser Ebene verhandelt.
Näher an die Wirklichkeit führen schon die Überlegungen zur Einführung eines Familiensplittings. Alleinerziehende empfinden das Ehegattensplitting immer mehr als eine Ungerechtigkeit – wenn sie überhaupt Zeit haben, um über solche Zusammenhänge nachzudenken. Zu Recht. Das Ehegattensplitting war ursprünglich dafür gedacht, Familien finanziell zu unterstützen, allerdings unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass die Mutter in der Regel wegen der Kindererziehung erwerbslos ist. Kurz: Das Ehegattensplitting basiert auf dem patriarchalischen Familienbild. „Witwen und Waisen“ waren und sind nicht im Blick. Entsprechend wurde das Ehegattensplitting bei seiner Einführung 1958 als „bedeutende Förderung des Familiengedankens“[1] bezeichnet sowie als „besondere Anerkennung der Aufgabe der Ehefrau als Hausfrau und Mutter.“[2]Das Bundesverfassungsgericht wies in seinem Urteil vom 7. Mai 2013 ausdrücklich auf diese Zusammenhänge bei einer Entscheidung für das Ehegattensplitting hin.
Doch das Familienbild hat sich heute grundsätzlich verändert. Jede fünfte Familie hat einen alleinerziehenden Elternteil, besteht also aus Witwe/Witwer und Waisen. Besonders auffällig sind dabei die Ost-West-Unterschiede.[3] Viele Paare bekommen heute aus unterschiedlichen Gründen keine Kinder mehr, und viele Paare heiraten nicht, wenn Kinder kommen. Ehe bedeutet also heute nicht mehr gleich Kinder/Familie. Man mag das bedauern oder auch nicht, es ist jedenfalls eine Realität. Hinzu kommt, dass Frauen meistens auch arbeiten (müssen), wenn sie Kinder haben.
Verheiratete erhalten in Kombination mit Steuerklasse 5 die günstigste Steuerklasse 3. Für Alleinerziehende gilt die schlechtere Steuerklasse 2. Wenn eine Frau mit zwei Kindern nach dem Tod des Ehepartners zurückbleibt, kann sie sich steuerlich schlechter gestellt vorfinden als vorher – um nur ein Beispiel von vielen möglichen zu nennen. Es darf die Politik nicht wundern, wenn Alleinerziehende in solchen und vergleichbaren Fällen eine Ungerechtigkeit sehen und fragen: Warum ist das so? Die besondere Aufmerksamkeit der Tora für die „Witwen und Waisen“ könnte in orientierungsloser Zeit Orientierung sein, um die Förderung der Familie auch steuerlich grundsätzlich neu in den Blick zu nehmen.
[1] Vgl. stenographischer Bericht der 17. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 13. März 1958, S.771; vgl. auch stenographisches Protokoll der gemeinsamen Sitzung des Haushaltsausschusses vom 13, Februar 1958, S.29)[2] BTDrucks 3/260, S.34; zu BTDrucks 3/448, S.6[3] Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article871062/Zahl-der-Alleinerziehenden-in-Deutschland-steigt.html
Klaus Mertes SJ (1954) ist Kollegsdirektor am Kolleg St. Blasien. Er hat Slawisitik und Klass. Philologie in Bonn studiert und 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosphie und kath. Theologie in München und Frankfurt a. M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem 2. Staatsexamen für Kath. Religion und Latein war er Lehrer an der St. Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen er Rektor er 2000-2011 war. Klaus Mertes ist Mitglied im Zentralkommitte der dt. Katholiken und im Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944