Klaus Mertes SJ beschreibt die Komplexität der Aufklärung von Skandalen in großen Institutionen wie der Bundeswehr und unterstreicht, dass es das Falscheste wäre , aus Furcht vor Fehlern bei der Aufarbeitung nichts zu machen.
Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.
Klaus Mertes
ZUR AUFKLÄRUNG DER SKANDALE IN DER BUNDESWEHR
Bei der Aufklärung von Machmissbrauch, sexualisierter Gewalt und problematischer Traditionspflege in Institutionen – im aktuellen Falle: Der Bundeswehr – kann man scheinbar nichts richtig machen. Daraus folgt aber nicht, dass man nichts machen sollte. Denn das würde ja genau den Interessen derjenigen dienen, die die Aufklärung aus guten Gründen fürchten. Man kann das aus der Perspektive der Verantwortlichen so formulieren: „Was immer ich mache, es ist falsch; also mache ich das Falsche, das ich für richtig halte.“
1.
Zunächst: Es gibt bei den Skandalen in der Bundeswehr, die jüngst zum Vorschein kamen, zwei unterschiedliche Stränge: Zum einen entwürdigende sexualisierte Gewalt im Zusammenhang mit Initiationsritualen, zum anderen rechtsextreme Tendenzen und Netzwerke. In dem einen Fall waren die Vorgänge in Pfullendorf, Bad Reichenhall u.a. ausschlaggebend für die Aufdeckung und die anschließende Aufmerksamkeitswelle in der Öffentlichkeit, im anderen Falle war es die Enttarnung der doppelten Identität des Offiziers Franco A., der mit Komplizen rechtsextremistisch motivierte Terrorakte plante.
Wenn man einen weiteren Bogen schlägt, so lassen sich diese beiden Stränge auch verbinden. Entwürdigende Unterwerfungs- und Demütigungsrituale im Zusammenhang mit Initiation sind typisch für männerbündische Strukturen. Das wissen wir auch aus anderen Bereichen wie Burschenschaften, Internaten, Sportvereinen etc. Im Kern geht es um Macht. Die Initiation eröffnet über die eigene Unterwerfung den Zugang zu dem Bund, der über die Unterwerfungsmacht verfügt. Das Motto, in dem Opfer und Täter über Generationen hinweg ineinander verstrickt sind, lautet: Ich unterwerfe mich, da mit ich unterwerfen darf. Bei der Intervention gegen solche Praktiken ist deswegen immer mit dem Widerstand nicht nur der Täter, sondern auch der Opfer zu rechnen, jedenfalls derjenigen, die sich nicht als Opfer definieren. Täter und Opfer fühlen sich „Traditionen“ verbunden, die ihre Identität als Gruppe ausmachen. Am meisten gefährdet sind bei den Interventions- und Aufklärungsprozessen die anderen Opfer, jene, die das Schweigen gebrochen und sich aus der Loyalität mit der Gruppe verabschiedet haben. Zu den komplexen Entscheidungsfragen, die sich der zuständigen Autorität stellen, gehört dann im Fall der Fälle, dass die Intervention nicht zu Lasten der Opfer gehen darf, die das Schweigen gebrochen haben. Ich kenne aus meiner eigenen Praxis als Schul- und Internatsleiter keine komplexeren und schwierigeren Entscheidungssituationen als diese.
Klaus Theweleit hat in seinem Buch „Männerphantasien“ beschrieben, dass und wie gerade rechtsextreme, faschistische Zirkel besonders anfällig sind für den männerbündischen Machtdiskurs mit seinen entsprechenden Initiationsritualen und narzisstischen Saturnalien. Hier spannt sich der Bogen über die beiden oben beschriebenen Stränge. Selbst wenn es keinen direkten Zusammenhang zwischen den Anschlagsplänen des Franco A. und rechtsextremen Tendenzen in der Bundeswehr einerseits sowie denjenigen Personen andererseits gibt, die in Pfullendorf und andernorts an den entwürdigenden Initiationsritualen beteiligt waren, so gibt es doch von der inneren Dynamik her Konvergenzen, die man sinnvollerweise im Blick behält, jedenfalls dann, wenn man präventiv arbeiten will. Prävention von Machtmissbrauch, sexualisierter Gewalt und informellen „Traditionen“ ist strukturelle Prävention – und muss es sein. Dasselbe gilt auch für extremistische Netzwerke.
2.
„Was immer ich mache, es ist falsch.“ Da ist zuerst die reflexhafte Kränkung innerhalb der Institution gegenüber der Leitung, wenn diese den strukturellen Aspekt der Phänomene benennt. Sofort steht der Nestbeschmutzungsvorwurf im Raum, im aktuellen Fall der Bundeswehr: Nestbeschmutzung durch die Chefin. Man mag über die eine oder andere Formulierung der Bundesministerin von der Leyen streiten, aber sie hat natürlich vollkommen Recht, wenn sie nicht nur Einzeltaten sieht, sondern den Blick auf systemische Zusammenhänge richtet. Die Einzeltaten finden in den Kontexten von problematischer Traditionspflege, von Schweigekartellen und von einem ausgrenzungsaffinen Loyalitätsverständnis statt. Diese müssen näher unter die Lupe genommen werden, wenn man aufklären und aufarbeiten will.
Es ist auch nahe liegend und vollkommen angemessen, dabei Führungsverhalten und Führungskultur mit in den Blick zu nehmen. Die Aufgabe von Leitung besteht unter anderem auch darin, gegen Gewalt und informelle Machtzirkel in der eigenen Institution zu intervenieren. Es kann viele Gründe geben, warum Leitung das im Fall der Fälle unterlässt – vielleicht, weil sie die Gewalt nicht sieht; die informellen Machtzirkel nicht als solche erkennt; die Symptomatik für extremistische Gesinnung verkennt ; vielleicht, weil sie sich anstrengende Konflikte ersparen will; vielleicht, weil sie überfordert ist mit Entscheidungssituationen, in denen Aussage gegen Aussage steht; vielleicht, weil sie Imageschaden von der eigenen Kompanie, der eigenen Kaserne, der eigenen Institution abwenden will; vielleicht weil sie selbst zu lange weggeschaut und deswegen selbst verstrickt ist. Und so weiter. Die Aufdeckung von Gewaltritualen und extremistischen Netzwerken ist dann jedenfalls eine Chance, Führungsverhalten neu zu durchdenken, sich neu zu verständigen über die Anlässe von Intervention, Beschwerdeverfahren zu klären und Interventionsverfahren für den Fall der Fälle zu stärken.
Sicherlich muss Führungsversagen auch disziplinarische Konsequenzen haben, wenn sich herausstellt, das Verantwortlich bewusst vertuscht und verschwiegen haben. Der Vertuschungsvorwurf ist allerdings auch eine wohlfeile Waffe, um ganz andere Interessen zu verfolgen, gerade auch in Wahlkampfzeiten. Jede Aufdeckung von Gewaltritualen und informellen Bünden in einer Institution ist verbunden mit der Erkenntnis, dass man nicht erkannt hat. Es gibt keine Aufklärung ohne die Aufklärung des eigenen Mitwissens, des Mitwissens im System, auch dann, wenn man das Mitwissen zum Zeitpunkt des „Mitwissens“ gar nicht als Mit-„Wissen“ begriffen hat. Der Vorwurf, man „hätte doch wissen können“, ist leicht erhoben, weil er immer irgendwie auch stimmt. Der Konjunktiv Plusquamperfekt ist der Modus der Besserwisser und findet in jeder Talkshow schnell Beifall. Aber er bekämpft im Fall der Fälle diejenigen, die in der Verantwortung für die Aufklärung stehen, statt sie zu ermutigen und zu unterstützen. Als im Rahmen der weiteren Recherchen ein Komplize von Franco A. aufgedeckt wurde, sprachen andere im Bundestag reflexhaft von einer schallenden Ohrfeige für die Leitung der Bundeswehr. Diese Art des politischen Diskurses ist am Ende dafür verantwortlich, dass bei den politisch Verantwortlichen ein Interesse daran entstehen könnte, die Aufklärung möge möglichst wenig aufdecken. Es ist zu hoffen, dass sie sich davon nicht beeindrucken lassen.
3.
Ich erwähnte oben bereits den Vorwurf der „Nestbeschmutzung von oben“. Es ist seltsam, dass dieser Vorwurf nicht nur aus dem Inneren der Bundeswehr, also von den eigenen Leuten erhoben wird, sondern mehr oder weniger von außen unisono im gesamten politischen Spektrum der Bundesrepublik, von den konservativ-bürgerlichen Medien bis hin zum linken Milieu. Dieselben, die jetzt zum Beispiel vollmundig eine „Entnazifizierung der Bundeswehr“ fordern – eine Formulierung, die viel weitergeht als alles, was die Bundesministerin über „Haltungs- und Führungskultur“ gesagt hat – beklagen den Vertrauensverlust zwischen der politischen Leitung der Bundeswehr und den Soldaten, weil die Leitung diese pauschal diffamiert habe. Das ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie billig es ist, auf diesem Niveau Vorwürfe zu erheben. Denn es ist auch in diesem Falle immer irgendwie etwas Wahres dran: Es gibt keine Möglichkeit, in einer Institution Gewalttraditionen und Machtzirkel aufzudecken und die Zusammenhänge aufzuklären, ohne dass in der Institution selbst Verunsicherung entsteht, gerade auch Verunsicherung gegenüber der Leitung. Das Opfergefühl in der Institution, die Institution als Opfer der Aufklärung – dieses Thema kennen wir zu Genüge aus der kirchlichen Missbrauchsdebatte der letzten Jahre: Imageverlust, Vertrauensverlust, Zerbrechen von Selbstbildern, Abschied vom unreflektierten, spontan gefühlten Stolz über die Zugehörigkeit zur Institution, zur Eliteeinheit, zu einem wichtigen Dienst am Gemeinwohl.
Aufklärung stiftet in der Institution immer zunächst Verunsicherung, Verwirrung der Gefühle, Schmerzen. Das Selbstbild und Selbstverständnis in der Institution muss dann in der Aufarbeitung neu geordnet werden. Das ist ein sehr mühsamer, aber lohnender Prozess. Wer aber die Aufklärung und die Aufklärer für die Verunsicherung in der Institution verantwortlich macht, der arbeitet gegen die Aufklärung und verlangt etwas, was nicht zu leisten ist. Es kommt hinzu: Letztlich ist ja nicht die Aufklärung die Ursache für die Verunsicherung, sondern die Gewalt, die undurchsichtigen Rituale und Netzwerke. Aufklärung muss verunsichern, um an die eigentlichen Quellen der Verunsicherung heranzukommen. Nur so kann neues Selbstbewusstsein entstehen.
4.
„Also mache ich das Falsche, das ich für richtig halte.“ Es gibt keine Aufklärung von Gewalttraditionen und informellen Netzwerken in Institutionen ohne die Aufklärung über das eigene Mit-Wissen oder Mit-Ahnen – worin immer es bestehen mag –, und es gibt auch keine Aufklärung ohne die Verunsicherung und das (falsche) Opfergefühl in der Institution. Deswegen wird in den nächsten Monaten jeder verantwortliche Schritt zur Aufklärung der Vorgänge in der Bundeswehr begleitet sein von den Kommentaren der Rechthaber, die „falsch“ rufen und dabei sogar irgendwie einen Punkt treffen. Aber das Falscheste wäre, nichts zu machen, um den Vorwürfen zu entgehen. Bleibt nur übrig, dasjenige Falsche zu machen, dass man nach gründlicher Prüfung seiner selbst trotzdem für richtig hält.
Klaus Mertes SJ (1954) ist Kollegsdirektor am Kolleg St. Blasien. Er hat Slawisitik und Klass. Philologie in Bonn studiert und 1977 in den Jesuitenorden eingetreten. Anschließend studierte er Philosphie und kath. Theologie in München und Frankfurt a. M. und wurde 1986 zum Priester geweiht. Nach dem 2. Staatsexamen für Kath. Religion und Latein war er Lehrer an der St. Ansgar-Schule in Hamburg und am Canisius-Kolleg in Berlin, dessen er Rektor er 2000-2011 war. Klaus Mertes ist Mitglied im Kuratorium Stiftung 20. Juli 1944