Karl-Rudolf Korte zieht eine Halbzeitbilanz der Großen Koalition und kritisiert eine anhaltende Debatten-Allergie.
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Karl-Rudolf Korte
Halbzeit: Sieger und Verlierer der GroKo
Die CSU kann sich auf jeden Fall zu den Halbzeit-Siegern der jetzigen Großen Koalition zählen. Das klingt paradox. Denn die CSU erhielt bei der Regierungsbildung keine klassischen Ressorts. Zudem scheiterte sie mit allen großen bundespolitischen Vorhaben wie der PKW-Maut und des Betreuungsgeldes – zumindest bislang gerichtlich. Faktisch ist es der bayerischen Regionalpartei hoch dialektisch gelungen, viele Ressourcen nach Bayern zu locken. Vom Straßenbauprogramm, das Bundesverkehrsminister Dobrindt für Infrastrukturverbesserungen startete, erhält das große NRW 128 Millionen Euro und Bayern 621 Millionen. Auch bei der Energiewende profitiert Bayern überdimensional. Man hat den Eindruck, dass Bayern Hilfspakete aus den anderen Bundesländern erhält, weil Bayern sich clever gegen den Trassenbau ausgesprochen haben. Die deutschen Stromkunden zahlen in den kommenden Jahren für die bayerischen Gaskraftwerke. Was kann eine Regionalpartei in Berlin mehr erreichen als solche Erfolge zu feiern? Auch die Umfragewerte zeigen für die CSU sehr positive Entwicklungen. Dass sie faktisch im Kabinett der Großen Koalition marginalisiert ist, hat aus Münchner Sicht nie eine bedeutende Rolle gespielt, wenn die Ergebnisse für Bayern stimmen.
In der Halbzeitbilanz der Groko schneidet auch die CDU sehr gut ab. Auch das klingt heute überraschend. Denn die CDU hatte zwar die Wahl gewonnen, aber in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und auch vieler Mitglieder der CDU, die Koalitionsverhandlungen verloren. Schnell setzte die SPD ihre sozialstaatliche Agenda durch: die vereinbarte Regulierung des Arbeitsmarktes, die Leistungssteigerungen der Rentenversicherung, die Frauenquote für Aufsichtsräte und die doppelte Staatsbürgerschaft. Die SPD war bei der Bundestagswahl mit einem Stimmenanteil auf dem Niveau der Weimarer Republik gelandet. Die Union verbuchte einen 15 Prozentpunkte Vorsprung vor der SPD – dem größten Abstand seit 1957 und mit einer Fraktion, der nur fünf Mandate zur eigenen Mehrheit fehlten. Und dann so ein sozialdemokratisches Paket? Wer sich von dem rein innenpolitischen Blick löst, erkennt schnell, dass die CDU dennoch Halbzeit-Sieger ist – ganz unabhängig von den aktuell niedrigen Umfragewerten für die SPD. Denn das Finanz- und Haushaltsregime für alle Krisenaspekte konnte die Union stabil halten und exklusiv weiter ausbauen. Das europäische Programm von Merkel und Schäuble hat sich durchgesetzt. Es trägt traditionelle konservativ-liberale Handschriften. Es sichert die Institutionalisierung finanzpolitischer Austerität und angebotsorientierter Wirtschaftspolitik. Das ist Union pur und alltagsmächtig weit über Berlin hinaus. Die Wählerinnen und Wähler verbinden damit Sicherheitsgarantien, die sie extrem personalisiert der Kanzlerin und dem Finanzminister zuschreiben.
Doch diese Bilanzierungen zur Groko haben auch atmosphärische und strukturelle Konsequenzen, die weit über die Einzelleistungen der Parteien im Bündnis verweisen. Die Diskurs-Bilanz der Groko ist eindeutig negativ. Denn wir haben uns an den Stil des geschäftsmäßig-nüchternen Regierens in der GroKo gewöhnt. Wir erwarten als Wähler keine Power-Entscheider, die kraftstrotzend und darstellungsreich wegentscheiden. Wir favorisieren Politiker, die den Bescheidenheits-Imperativ vorleben. Sie dienen uns problemlösend – ohne sich selbst zu inszenieren. Es sind eher Amtsinhaber als Staatsmänner. In Zeiten der täglich medial vermittelten Krisendynamik goutieren die Deutschen mehrheitlich diesen Politikstil, der auf Problemlotsen abzielt. Es sind im besten Fall Orientierungs-Autoritäten, die als Soliditäts-Garanten für uns als Bürger innen- und außenpolitisch Probleme abräumen. Diese Erwartung geht soweit, dass Mehrheiten heute nicht derjenige erhält, wer am meisten verspricht, sondern wer den Erhalt des Status Quo garantiert. Früher passte das Führungscharisma zum Bild des Steuermanns, der hierarchisch mit viel Überblick navigierte. Heute gilt es sich postheroisch, im Verbund mit vielen anderen, permanent und gipfelbeseelt abzustimmen: kleinteiliges Vielfaltsmanagement. Die politische Lage ändert sich so rasch, das Risiko-Kompetenz als Führungsressource unersetzbar wird: eine Sensibilitätsschulung für das Eintreten unerwarteter Ereignisse.
Der Politiker ist gut beraten, insofern pragmatisch im Modus des Abwartens, des Beruhigens, des Kümmerns, idealerweise sogar des substantiell Verzögerns zu agieren. Innenpolitisch wirkt das fast immer präsidentiell, also überparteilich. Manchmal kann sogar die Rolle des Ombutsmann daraus resultieren: unparteiisch das Bürgergespräch am Runden Tisch so zu moderieren, als gebe es keinen Parteienwettbewerb im Parlament. Sachlich kann man hier kaum Einwände vorbringen, wenn letztlich der Eindruck von verwaltetem Regieren entsteht.
Doch die Qualität der Demokratie verändert sich dadurch substanziell. Denn wenn die öffentliche Debatte fehlt, wenn Leidenschaft und Emotion im Ringen um Positionen verlernt sind, kippt die Demokratie. Der öffentlich ausgetragene Konflikt stiftet Zusammenhalt, nicht der Konsens. Das ist auch das Missverständnis einer Großen Koalition, die immerwährende Debatten-Allergie produziert. Ein Stillhalteabkommen über politischen Minenfeldern. Sie führen zu Lähmungswirkungen im Parteienwettbewerb. Aber was passiert, wenn plötzlich in so einem Klima, neue Themen mit großer Dringlichkeit auftauchen, wie beispielsweise die Flüchtlings-Unterbringung in den Kommunen, oder wenn durch Krieg und Terror Angstgefühle um sich greifen. Was geschieht, wenn neo-biedermeierliche Rückzüge ins Private nicht mehr schützen, um sich vor dem aktuellen Epochendurcheinander weg zu ducken?
Ein Politikstil der nur postheroisch daherkommt, beschreibt alltägliche Wirklichkeiten, nie jedoch Möglichkeiten. Die Qualität einer Demokratie lebt jedoch immer vom Wechsel zwischen Entscheidung und dem öffentlichen Ideenaustausch. Wer keine Möglichkeiten beschreibt, drückt sich vor Gestaltungszielen. Ohne Gestaltungsziele kann sich keine notwendige Debatte entfalten- und schon gar keine emotionale Leidenschaft. Um die Qualität der Demokratie – gerade für die politische Mitte – ohne einen Populismus der Extreme zu sichern, brauchen wir mehr Streit, mehr Ideologie, mehr Begeisterung und auch weniger langweilige Politikentscheider. Ob sich in der zweiten Halbzeit der Groko dazu was ändern wird ?
Karl-Rudolf Korte (1958) ist seit 2003 Professor an der Universität Duisburg-Essen für den Lehrstuhl „Politisches System der Bundesrepublik Deutschland und moderne Staatstheorien“. Er promoviert an der Universität Mainz (Dr. phil.) und habilitiert an der Universität München (Dr. rer. pol. habil.). Im Anschluss hat Korte Vertretungsprofessuren in Trier, Köln, München und Duisburg inne. Weitere wissenschaftliche Stationen führen ihn nach Tokio, St. Gallen und Washington D. C. Im Jahr 2006 gründet er die NRW School of Governance, deren Direktor er seitdem ist.