UNGARN: GRENZEN UND IDENTITÄT

Frank Spengler beschreibt wie die ungarische Regierung die Flüchtlingskrise immer und vor allem im Kontext des möglichen Verlustes der nationalen und europäischen Identität sieht.

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Frank Spengler

Grenzen und Identität
– Betrachtungen zu Ungarn –

Als ungarische Sicherheitskräfte am 16. September 2015 an der Grenze zu Serbien Tränengas und Wasserwerfer einsetzten, reagierten die internationalen Medien darauf geschockt und mit massiver Empörung. Diesen dramatischen Szenen vorausgegangen war ein gewaltsamer An­sturm durch Hunderte von Flüchtlingen auf ein Grenztor. Nur mit Mühe gelang es der ungari­schen Polizei, die Steine werfenden Menschen zurückzudrängen. Die serbische Polizei dabei griff nicht ein. Nach einiger Zeit gelang es den serbischen Behörden, die Flüchtlinge davon zu überzeugen, einen anderen Weg in die Zielländer zu nehmen. Sie organisierten dann Busse, die die Flüchtlinge an die serbisch-kroatische Grenze brachten.

Auf die ungarischen Verantwortlichen hagelte es internationale Vorwürfe vor allem hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes und dass der europäische Wertekon­sens damit verletzt worden sei. Die ungarische Regierung wiederum wies darauf hin, dass sie nur die Rechtslage in Europa umsetze: die Sicherung der Schengen-Grenze gegen illegale Grenzübertritte. Die Ereignisse an der ungarisch-serbischen Grenze überraschten zwar viele EU-Bürger, diese Entwicklung war aber absehbar.

Der kroatische Innenminister Ranko Ostojic erklärte umgehend, dass das Land 1.500 Menschen pro Tag aufnehmen könne und dass man die Flüchtlinge auf den Weg nach Öster­reich und – damit auch nach Deutschland – nicht aufhalten werde. Die slowenische Regierung war und ist weiterhin aber nicht bereit, die Sicherung der Schengengrenze auszusetzen. Sie ließ nur eine geringe Anzahl von Migranten in das Land und verstärkte die Grenzkontrollen. Daraufhin führten die kroatischen Sicherheitskräfte die Flüchtlinge an die ungarisch-kroati­sche Grenze. Die ungarischen Behörden stellten für die Migranten, ohne sie zu registrieren, Transportmittel Richtung Österreich zur Verfügung. Die ungarische Regierung geht davon aus, dass die Flüchtlinge in Kroatien ordnungsgemäß registriert werden. Nach diesem Vorge­hen der kroatischen Seite wurde der Bau von Grenzbefestigungen an der ungarisch-kroati­schen Grenze zügig vorangetrieben. Der Zaun auf der ungarischen Seite wird in den nächsten Tagen fertig sein. Es bleibt abzuwarten, wie die Flüchtlinge auf diese Sperre reagieren.

Alarmglocken in Brüssel

Bereits Anfang des Jahres 2015 wurden von ungarischen Politikern vor allem in Brüssel die Alarmglocken hinsichtlich der zu erwartenden Flüchtlingsströme über die „Balkanroute“ ge­schlagen; ohne besonderen Erfolg. Über die Schwierigkeiten in Griechenland und Italien, die Flüchtlinge ordnungsgemäß zu registrieren und aufzunehmen, wurde in Europa lange hinweg gesehen. Darüber hinaus prägte für einige Zeit das Bild von überfüllten Booten im Mittelmeer die öffentliche und mediale Wahrnehmung der Flüchtlingsströme nach Europa. Dies änderte sich erst mit der Bekanntgabe von Plänen zur Errichtung eines 175 Kilometer langen Zaunes an der ungarisch-serbischen Grenze. Der Tod von 71 Migranten in einem Schlepper-LKW an der ungarisch-österreichischen Grenze sowie die Bilder des überfüllten Budapester Ostbahn­hofs rückten dann auf dramatische Weise die Balkanroute in das Blickfeld der europäischen Aufmerksamkeit. Die sich immer schneller und stärker auftürmende Welle der Flüchtlinge über diese Strecke stieß erst in Ungarn auf Widerstand.

Im Gegensatz zu anderen Ländern entschied die ungarische Regierung, den unkontrollierten Durchzug von Flüchtlingen zu verhindern. Ministerpräsident Viktor Orbán machte den Bau des Grenzzauns zur Chefsache, den Einsatz gegen den illegalen Grenzübertritt zu einer Frage der nationalen Souveränität. Da es auf europäischer Ebene keine gemeinsame Flüchtlingspoli­tik gebe, so ungarische Politiker, bliebe Ungarn nichts anders übrig, als einseitig zu handeln, um die Sicherheit des Landes und seiner Bürger gewährleisten zu können. Am 15. September 2015 wurde der Bau der Grenzsicherungsanlagen an der serbischen Grenze abgeschlossen und um Mitternacht traten neue, strengere Gesetze in Kraft. Der illegale Grenzübertritt kann nun mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden. Zur Sicherung der Grenze wurde das Polizeiaufgebot ausgeweitet und neue Grenzjägerkompanien aufgestellt. Nur rund 3.500 Flüchtlinge wurden seit Mitte September 2015 an der ungarisch-serbischen Grenze nach ihrem illegalen Übertritt aufgegriffen. Auch ist die Anzahl der Asylsuchenden an den of­fiziellen Grenzübergängen drastisch zurückgegangen. Ministerpräsident Orbán erklärte in ei­nem Interview der Welt am 16. September, dass man die „undankbare Aufgabe“ gehabt hätte, die illegale Migration nach Ungarn zu stoppen: „Wir haben uns ein Ziel gesetzt und dieses Ziel erreicht“.

Die Rückkehr zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren ist für Ungarn eine wichtige Vor­aussetzung, um über eine notwendige Verteilung der Schutzbedürftigen in Europa zu einer Ei­nigung zu kommen. Die Regierung erklärte mehrfach, dass sie durchaus bereit sei, über ein Quotensystem zu reden. Sie betonte jedoch, dass Quoten in Europa viele potentielle Flüchtlin­ge als eine Einladung zum Kommen verstehen würden. Die ungarische Regierung stimmte zwar gegen die von den europäischen EU-Innenministern mit qualifizierter Mehrheit be­schlossene weitere Verteilung von 120.000 Flüchtlingen, akzeptiert diese jedoch.

Sicherung der ungarischen und europäischen Identität

Die ungarische Regierung sieht die Flüchtlingskrise immer und vor allem im Kontext des möglichen Verlustes der nationalen und europäischen Identität. Ministerpräsident Orbán sieht die eigene Identität insbesondere dann in Gefahr, wenn die Flüchtlingskrise schlecht gema­nagt würde. Wenn viele Muslime nach Europa kämen, würden die Christen diesen „Wettbe­werb der Kulturen“ verlieren.

Vor diesem Hintergrund sollen die Grenzbefestigungsanlagen zwar in erster Linie die Einhal­tung der Rechtsordnung garantieren, sie haben aber in Ungarn auch eine nicht zu unterschät­zende symbolische Wirkung. Sie signalisieren, dass die Regierung willens und in der Lage ist, die ungarische Souveränität und Identität zu verteidigen.

Seit Trianon beschäftigt sich das Land intensiv mit der Frage nach der nationalen Identität. Auch zwingen die Globalisierung und die EU-Mitgliedschaft, sich nun noch intensiver mit den Herausforderungen der Zukunft der Nation auseinanderzusetzen. Die Flüchtlingskrise steht daher in einer engen Beziehung zur Frage der Identität. Die Entscheidung, einen Zaun zu bauen, ist somit auch eine politische Grenzziehung, eine Wegmarkierung und eine Klarstel­lung. Sie ist der Kompass für die ungarische Politik hinsichtlich der Frage nach der eigenen Identität.

Der ungarische Ministerpräsident hat mehrfach erklärt, dass „Einwanderung nichts Gutes“ be­deute und nur „Probleme und Gefahren für den europäischen Menschen“ bringe. In einem FAZ-Interview Anfang Februar präzisierte er seine Aussagen dahingehend, dass Ungarn, an­ders als etwa Frankreich oder Deutschland, nicht bereit sei, das Risiko der Einwanderung ein­zugehen: Ungarn wolle keine multikulturelle Gesellschaft, sondern seine eigene Kultur und Identität soweit wie möglich bewahren. Die ungarische Regierung sieht auch keine Notwen­digkeit, das Problem der demografischen Entwicklung durch Zuwanderung zu entschärfen. So setzt Ungarn vielmehr durch eine Förderung der Familien auf eine Steigerung der Geburtenra­te. Darüber hinaus soll durch eine verbesserte Ausbildung der Roma und deren Integration in die Wirtschaft das Problem der erforderlichen zukünftigen Arbeitskräfte gelöst werden.

Das vor allem von Deutschland ausgehende Signal, die Flüchtlinge als Chance für eine weite­re Entwicklung der Gesellschaft zu verstehen, trifft in Ungarn auf eine andere Bewertung. Im Sommer hat Viktor Orbán in einer Rede in Bad Tuschnad (Băile Tușnad/ Tusnádfürdő) im Szeklerland, in Rumänien, dies deutlich gemacht. Die Ergebnisse der Aufnahme von „Men­schenmassen“ mit unterschiedlichem Zivilisationshintergrund wollte er nicht bewerten, denn jedes Land habe ein Recht darauf. Er sprach sich aber gegen eine Wiederholung dieses Vorge­hens in Ungarn aus und warnte vor einer Integrationsüberforderung und vor der Gefahr von Parallelgesellschaften.

Voraussetzung einer nachhaltigen und erfolgreichen europäischen Flüchtlingsstrategie scheint daher ein offener Diskurs einerseits über Integration und Hilfeleistung für die Flüchtlinge und andererseits über die Konsequenzen für die nationale und europäische Identität. Dieses Di­lemma gilt es aus ungarischer Sicht durch eine angemessene und gemeinsame europäische Strategie aufzulösen.

Frank Spengler (1955) ist Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ungarn.

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