Johannes Ludewig erinnert an die friedliche Revolution, die die Bürger in der DDR mit großem Mut und hohem persönlichen Risiko zum Erfolg geführt haben, und daran wie Helmut Kohl die deutsche Einheit politisch gestaltet hat.
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Johannes Ludewig
25 Jahre Deutsche Einheit
Wenn man den Weg zur deutschen Einheit überblickt, steht ganz am Anfang die friedliche Revolution, die die Bürger in der DDR mit großem Mut und hohem persönlichen Risiko zum Erfolg geführt haben. Mit ihrem friedlichen Kampf gegen die SED-Diktatur und dem Fall der Mauer am 9. November haben Bürger und Bürgerrechtler der DDR in bewundernswerter Weise deutsche Geschichte geschrieben. Alles andere, was dann folgte, wurde dadurch erst möglich.
Diese Möglichkeiten hat Helmut Kohl aufgegriffen und politisch gestaltet. Sein 10-Punkte-Plan vom 28. November gab noch eher vorsichte Orientierungen. Aber schon das Treffen zwischen Bundeskanzler Kohl und DDR-Ministerpräsident Modrow drei Wochen später in Dresden mit dem unerwarteten Zusammenströmen Zehntausender DDR-Bürger, dem schwarz-rot-goldene Fahnenmeer und den nicht enden wollenden Helmut-Rufen bei Kohls abendlicher Rede vor der Ruine der Frauenkirche – all das vermittelte das Gefühl, dass die politische Neugestaltung in Deutschland viel schneller gehen könnte als bis dahin gedacht.
Und so kam es denn auch. Die seit Ende 1989 stetig wachsende Zahl der Übersiedler von Ost nach West sowie die Präsenz von 370.000 sowjetischen Soldaten in der DDR, die bisher in den Kasernen geblieben waren, verstärkten den Druck, das unverhofft geöffnete Zeitfenster zu nutzen. Es kam jetzt darauf an, den Menschen in der DDR überzeugende Zukunftsperspektiven zu eröffnen und gleichzeitig irreversible Fakten zu schaffen, von denen es keinen Weg mehr zurück zu Mauer und Stacheldraht geben konnte.
Dieser Weg führte dann in atemberaubendem Tempo über das Angebot zu Verhandlungen über eine deutsch-deutsche Währungsunion Anfang Februar 1990, die Zustimmung Gorbatschows am 10. Februar in Moskau zur Überwindung der deutschen Teilung und zur Lösung der damit verbunden Fragen durch die Deutschen selbst, die freie Volkskammerwahl am 18. März, die Verhandlungen über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, deren Abschluss am 18. Mai sowie ihr Inkrafttreten am 1. Juli, die Zustimmung der Sowjet-Union Mitte Juli zur vollen Souveränität eines vereinten Deutschlands, die Unterzeichnung des Einigungsvertrags am 31. August sowie den erfolgreichen Abschluss der Zwei-plus-vier-Gespräche zur Regelung der außenpolitischen Fragen am 12. September – also in weniger als 11 Monaten nach dem Fall der Mauer – zur Wiederherstellung der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990.
Diese beispiellose Dynamik des Einigungsprozesses hatte zweifellos etwas zu tun mit der damals schwierigen Wirtschafts- und Finanzlage in der Sowjet-Union wie auch in der DDR. Entscheidend aber war, dass Helmut Kohl die mit dem Fall der Mauer über Nacht entstandene neue Situation richtig einschätzte, die daraus sich für Deutschland ergebenden Chancen erkannte und entschlossen nutzte – innenpolitisch ebenso wie im Verhältnis zu den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs. Er war Regisseur und Gestalter der Wiedervereinigung. Viele andere – allen voran Lothar de Maizière, Günther Krause, Richard Schröder und Wolfgang Schäuble – haben ihrerseits wichtige Beiträge zu diesem Einigungswerk geleistet, ohne die das Ziel nicht zu erreichen gewesen wäre.
Die wirtschaftliche Realität der Wiedervereinigung hatte mit dem Inkrafttreten der Währungsunion schon Mitte des Jahres begonnen. Viele Milliarden waren notwendig, um Unternehmen und Betrieben die überlebensnotwendige Liquidität zu sichern – und um ‚Zeit zu kaufen’ für Umstrukturierung und Investitionen, für konkurrenzfähige Produktivität und wettbewerbsfähige Angebote. Die Bundesregierung reagierte darauf mit einer Strategie, die Detlev Rohwedder so zusammenfasste: „Schnelle Privatisierung – entschlossene Sanierung – behutsame Stilllegung.“ Auf keinen Fall sollte der Fehler des Ruhrgebiets – Dauersubventionen für nicht lebensfähige Wirtschaftsstrukturen – wiederholt werden. Im Gegenteil. Schrittweiser Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft und Industrie, die sich am deutschen und internationalen Markt behaupten kann.
Dieser tiefgreifende Umbau der ostdeutschen Wirtschaft war eine gigantische Herausforderung – in seinen finanziellen Milliarden-Dimensionen und in seinen Auswirkungen auf die betroffenen Menschen. In nur drei Jahren ging die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Industrie verloren. Mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, vorzeitiger Rente, Umschulung und vielen anderen sozialen Hilfen in bisher nicht gekannten Größenordnungen wurde versucht, diesen gewaltigen Ein- und Umbruch für die Betroffenen ertragbar zu machen. Wirtschaftspolitisch gab es keine Alternative zu diesem Weg zu neuen Kunden und zu neuen Produkten, zu durchgreifender Modernisierung oder auch zur Stilllegung dort, wo keine Zukunftschancen erkennbar waren. Der sog. ‚Schürer-Bericht’ vom 31. Oktober 1989 – ein internes Gutachten des SED-Spitzenfunktionärs Gerhard Schürer an das Zentralkomitee der SED – hatte schonungslos offengelegt, dass die DDR wirtschaftlich und finanziell nicht mehr aus eigener Kraft handeln konnte, d.h. am Ende war. Die alte Ostblockwelt hatte aufgehört zu existieren, ihre Märkte und Technikstandards waren unwiderruflich weggebrochen. Eine Erneuerung von Grund auf war der einzige Weg nach vorn – ein Weg, der das Risiko von Irrtümern und Fehlern mit einschloss. Dass dieser Weg beschritten werden konnte, ist auch dem kaum zu erwartenden Mit-Tun der Betriebsräte der ostdeutschen Industriebetriebe zu verdanken. Die Würdigung ihres einzigartigen Beitrags zum Aufbau Ost steht noch aus!
Und was ist daraus geworden? Gibt es sie, die ‚blühenden Landschaften’, von denen Helmut Kohl 1990 gesprochen hat? Kein Zweifel, wenn man sich an die deprimierende Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus von 1990 erinnert und sich vor Augen hält, was in den folgenden zehn, zwanzig und fünfundzwanzig Jahren zwischen Elbe, Oder und Eichsfeld um-, auf- und neugebaut wurde, dann beantwortet sich diese Frage von selbst. Dass diese Vision des Aufbaus Ost von manchen als Kurzfristprognose missverstanden worden ist und bei zu vielen nicht realisierbare Erwartungen geweckt hat, gehört auch zu den Erfahrungen des Neubeginns in Ostdeutschland.
Und noch etwas: Die Lebenserwartung der Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge hat in den ersten zehn Jahren nach der Wiedervereinigung um vier Jahre zugenommen – eine einzigartige Verbesserung der persönlichen Lebensverhältnisse in der gesamten westlichen Welt! Und eine Umfrage im Herbst 2014 stellte zum widerholten Mal die Frage, ob die Wiedervereinigung eher ein Anlass zur Sorge oder zur Freude sei. Das Ergebnis: Noch nie, selbst zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung, waren die Antworten in West- und Ostdeutschland so zuversichtlich, noch nie hat die Freude (72 bzw. 67%) die Sorgen (5 bzw. 8%) so weit hinter sich gelassen wie jetzt, 25 Jahre nach unserem historischen Neubeginn. Können wir uns selbst ein schöneres Geschenk zu diesem Geburtstag machen?
Johannes Ludewig (1945) hat Wirtschaftswissenschaften in Hamburg, Stanford/California und Paris (ENA) studiert. Aus dem Bundeswirtschaftsministerium wechselte er 1982 Bundeskanzleramt und wurde dort dort 1991 Leiter der Abteilung ‚Wirtschaft, Finanzen und Koordinierung neue Länder’ und 1995 Staatssekretär und Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Länder im Bundeswirtschaftsministerium. 1997 wurde er Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn, danach Generaldirektor der Europäischen Eisenbahnen in Brüssel. Seit 2006 ist Ludewig Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrats.