Michael Mertes, ehem. Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem, gab dem Deutschlandfunk ein bemerkenswertes Interview zu Frage, ob es im Nahen Osten um einen Religionskrieg geht.
Hier können Sie die Abschrift des Interviews ausdrucken.
Nachzuhören ist das Interview in der ARD-Mediathek:
DLF-Interview von Matthias Gierth mit Michael Mertes zum Streit um den Tempelberg, 25. November 2014, – Sendung „Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft“
Matthias Gierth: Die Gewalt in Jerusalem hat seit vergangener Woche auch die
religiösen Stätten erreicht. Bei einem Anschlag auf eine Synagoge in einem
ultraorthodoxen Stadtviertel starben vier Juden; sechs weitere wurden verletzt, die
Attentäter erschoss die Polizei noch am Tatort. Während sich die politischen
Führungen von Israelis und Palästinensern gegenseitig die Schuld zuweisen,
sprechen andere davon, dass sich der politische Konflikt zu einem Religionskrieg
entwickelt. Klar ist, dass es bei dem jüngsten Anschlag im Kern um den Tempelberg
geht, den einstigen Standort des jüdischen Tempels, die heute drittheiligste Stätte des
Islams – nach Mekka und Medina. Die Zutrittsbedingungen zur Al-Aqsa-Moschee und
dem Felsendom heizen seit Wochen den Konflikt zwischen Muslimen und Juden an.
Bei mir im Studio begrüße ich nun den Buchautor und Publizisten Michael Mertes, der
bis Juli das Auslandsbüro Israel der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem geleitet
hat. Guten Morgen, Herr Mertes.
Michael Mertes: Guten Morgen, Herr Gierth.
Herr Mertes, handelt es sich bei dem, was wir in Israel derzeit erleben müssen, nicht
schon längst um einen Religionskrieg?
Ich halte das für eine übertriebene Charakterisierung. Religion hat in diesem Konflikt schon
immer eine gewisse Rolle gespielt, aber es war und ist im Wesentlichen ein Konflikt zweier
Nationalitäten, nicht zweier Religionen. Richtig ist, dass Religion eine zunehmende Rolle
spielt.
Auf der jüdischen Seite haben wir seit Mitte der 1970er Jahre erlebt, dass sich der
ursprünglich vor allem säkulare Zionismus in Richtung eines religiösen, messianischen
Zionismus entwickelt hat. Diese religiösen Zionisten sind immer noch in der Minderheit, aber
es ist eine sehr lautstarke Minderheit. Die religiösen Zionisten betrachten den Staat Israel als
Station auf dem Weg zur Erlösung des jüdischen Volkes. Sie betrachten die Siedlungen als
ein messianisches Projekt, das erst mit dem Bau des Dritten Tempels vollendet sein wird. Da
gibt es natürlich ein klitzekleines Problem: Der Bau des Dritten Tempels würde den Abriss
des Felsendoms und der Al-Aqsa-Moschee voraussetzen.
Das ist die jüdische Seite. Auf der muslimischen Seite können wir schon seit Längerem die
Popularisierung von Vorstellungen beobachten, wonach es einen apokalyptischen Endkampf
zwischen Juden und Muslimen um Jerusalem geben wird. Viele Muslime, die das glauben,
fühlen sich von den Aktivitäten religiöser Zionisten in diesem Glauben bestätigt. Ich will noch
einen Punkt hinzufügen, der regional von großer Bedeutung ist: Es gibt islamistische
Bewegungen wie die Moslembrüder – zu denen ja auch die Hamas gehört – oder den so
genannten Islamischen Staat, die ein Kalifat mit der Hauptstadt Jerusalem, mit der
Hauptstadt Al-Quds anstreben. Und ein letzter Punkt, den ich hier noch erwähnen möchte:
Viele Muslime in der Region bestreiten, dass auf dem Tempelberg, dem Haram asch-Scharif,
jemals ein jüdischer Tempel gestanden hat. Angeblich hat der bei Nablus gestanden – das
ist natürlich absurd.
Jetzt treibt eine Minderheit rechtsgerichteter Juden die Pläne für die Errichtung eines
Dritten Tempels auf dem Tempelberg voran. In diesem Zusammenhang wird immer
wieder das „Tempel-Institut“ oder die „Initiative für jüdische Freiheit auf dem
Tempelberg“ erwähnt. Um welche Einrichtungen handelt es sich da? Und warum
stoßen sie offensichtlich auf einen großen Zulauf?
Beide Einrichtungen verfolgen ähnliche Ziele, zum Teil haben sie auch denselben
Unterstützerkreis. Das Tempel-Institut ist seit Ende der 1980er Jahre aktiv. Es wirbt für die
Wiedererrichtung des jüdischen Tempels und hält für den großen Tag X, an dem dieser Bau
vollendet ist, die nötigen Kultgewänder und Kultgeräte bereit. Das können Sie alles in
Jerusalem, im Jüdischen Viertel der Altstadt, besichtigen. Da sind Kultgeräte, die
insbesondere für die Wiederherstellung des antiken Tieropferkultes notwendig sind. Dazu
gehören Priesterkleidung, eine Krone für den Hohenpriester, Gefäße für das Blut der
Opfertiere, eine silberne Schaufel für die Beseitigung der Asche vom Altar, ein Losbehälter
für die Bestimmung des Sündenbocks et cetera et cetera.
Zu Ihrer Frage nach dem Zulauf: Ich denke, dass das immer noch eine Minderheitenposition
im israelischen Judentum ist. Den meisten israelischen Juden, mit denen ich über das
Thema „Tempel-Insitut“ gesprochen habe, ist die Sache eher peinlich. Aber der Fehler, der
von den säkularen, von den liberalen Juden gemacht worden ist, besteht darin, dass man
diese Leute nicht ernst genommen hat. Und nun sind diese Leute inzwischen so etwas wie
salonfähig. Sie haben eine starke Anhängerschaft in der Siedlerparti HaBajit HaJehudi, zum
Teil auch im Likud. Und sie haben sogar einen Vertreter, wenn man so will, im Kabinett
Netanjahu: Bauminister Uri Ariel, der sich öffentlich für den Bau des Dritten Tempels
einsetzt.
Wenn die Forderung erhoben wird, den Tempelberg unter israelische Souveränität zu
stellen und den Juden das Recht zum Gebet an der Heiligen Stätte zuzusprechen,
dann ist das ja auch ein Angriff auf Jordanien. Denn seit 1994 unterstellt das
Friedensabkommen mit Jordanien diesen Komplex wie alle anderen muslimischen
Heiligtümer der islamischen Waqf-Behörde. Ist man sich eigentlich auf israelischer
Seite dieses Verstoßes bewusst?
Also, in der Regierung Netanjahu ist das wohlbekannt, aber ich denke, man hat einfach nicht
ernst genug genommen, wie wichtig diese Vereinbarung für Jordanien ist. Im Zentrum dieser
Vereinbarung steht ja nicht der Waqf, sondern die Anerkennung des Haschemitischen
Königshauses von Jordanien als Hüter des Haram asch-Scharif, des „Edlen Heiligtums“, wie
die Muslime den Tempelberg nennen. Netanjahu musste seine eigenen Parteifreunde, seine
eigenen Koalitionspartner zurückpfeifen und im persönlichen Gespräch dem jordanischen
König versichern, dass Israel nicht am Status quo auf dem Tempelberg rütteln wird.
Ich komme gerade von einer Tagung in Netanja zurück, auf der einer der israelischen
Verhandler von 1994 erklärte, dass der damalige jordanische König Hussein dem
Friedensvertrag explizit nicht zugestimmt hätte, wenn der Vertrag nicht diese Klausel
enthalten hätte. Das zeigt, wie wichtig die Sache für Jordanien ist. Und Israel hat jedes
Interesse daran, die Stabilität des Haschemitischen Königshauses von Jordanien zu sichern,
indem es auch dagegen ankämpft, dass die Legitimität, dass die religiös fundierte Legitimität
dieses Königshauses auf dem Tempelberg unterminiert wird.
Jetzt artikulieren sich die Christen der Stadt ja weniger deutlich; die stellen natürlich
mit nur 2 Prozent auch eine Minderheit dar, das muss man sehen. Wie ist ihre
Position?
Zunächst einmal erkennen die Christen im Gegensatz zu den Muslimen an, dass auf dem
Tempelberg der jüdische Tempel gestanden hat. Und ich weiß von hochrangigen Priestern
aus Jerusalem, dass diese Position der Christen von vielen Muslimen übelgenommen wird.
Das Christentum kennt keine zentrale Kultstätte und kein Tieropfer; deshalb hat der
Tempelberg für die Christen keine Bedeutung als heilige Stätte. Und im Übrigen gibt es für
die Christen ja eine zentrale – die zentrale – heilige Stätte in Jerusalem, nämlich die
Grabeskirche.
Übrigens – das möchte ich noch hinzufügen – gibt es sehr viele Parallelen zwischen
Christentum und rabbinischem Judentum, wie es sich nach der Zerstörung des Tempels
70 n.Chr. entwickelt hat. Die meisten frommen Juden, das sollte man auch einmal betonen,
sind der Ansicht, dass der Wiederaufbau des Tempels eine Sache des Messias ist – und
nicht von zelotischen Politikern. Ich betone das deshalb, weil ich in Deutschland immer
wieder auf den Irrtum stoße, dass die treibende Kraft hinter dieser Tempelbewegung die
Frommen, die Ultraorthodoxen sind.
Ist es eigentlich vorstellbar, dass die Religionen aus sich heraus Kraft zur
Überwindung dieses Konflikts entwickeln?
Meine Antwort ist da ambivalent. Ich denke, dass die Religionen Teil der Lösung sein
müssen. Sie sind aber eben auch Teil des Problems. Es gibt friedfertige Rabbiner und
Imame, die zum Miteinander aufrufen – und es gibt fanatische Rabbiner und Imame, die ihre
Anhänger gegen die andere Seite aufhetzen. Mir hat sehr imponiert in den letzten Tagen,
was der sephardische Oberrabbiner Jitzhak Josef gesagt hat: Er hat sich klar ausgesprochen
gegen nationalreligiöse Aktionen auf dem Tempelberg – und ich meine, dass solche
religiösen Führer hier eine Schlüsselrolle spielen sollten, auch auf der islamischen Seite.
Das Problem ist, dass die Politik alles überlagert. Ich habe zum Beispiel selbst erlebt, dass
eine interreligiöse Veranstaltung während des Dritten Gaza-Krieges abgesagt wurde, weil die
muslimischen Teilnehmer einfach die Sorge hatten, von der eigenen Seite als „Verräter“
denunziert zu werden.
Das heißt aber: So etwas wie einen interreligiösen Dialog als solchen gibt es
eigentlich nicht?
Doch, den gibt es – aber zumeist erreicht er nur diejenigen, die schon überzeugt sind und
Gewalt strikt ablehnen. Die Lösung liegt meines Erachtens in einem Bündnis aller
Friedfertigen, das auch die Säkularen umfasst. Ich sehe nämlich einen möglichen Konsens
zwischen den Gläubigen und den Nichtgläubigen: die Überzeugung, dass jeder Versuch, das
Reich Gottes auf Erden zu errichten, das Leben zur Hölle macht. In Jerusalem lässt sich
sehr gut studieren – so habe ich das jedenfalls erfahren –, wie segensreich der säkulare
Staat ist, nicht zuletzt für die Religionen selbst.
Wie wichtig sind dann solche Einladungen zu Friedensgipfeln, wie sie Papst
Franziskus nach seiner Israel-Reise im Vatikan mit Palästinenserpräsident Mahmud
Abbas und dem israelischen Staatschef Schimon Peres veranstaltet hat?
Sie sind sehr wichtig. Sie haben keine kurzfristige politische Wirkung, aber sie setzen ein
bleibendes Zeichen dafür, dass es eine Alternative gibt. Und ich weiß aus vielen
Gesprächen, dass für die Christen in Israel und den Palästinensergebieten – weit über die
Katholiken hinaus – diese Begegnung ein Zeichen der Hoffnung und der Ermutigung
gewesen ist: der Ermutigung, am strikten Kurs der Gewaltlosigkeit festzuhalten und den
Hass zu überwinden, der die Menschen in der Region von innen her zerfrisst.
Von Ihnen, Michael Mertes, und Ihrer Frau erscheint im Frühjahr 2015 ein Buch über
Jerusalem im Bonifatius-Verlag, in dem sie Ihre vielfältigen Begegnungen in Israel und
den Palästinensergebieten reflektieren. Danke für Ihre Einschätzungen und dafür,
dass Sie heute Morgen zu uns ins Kölner Funkhaus gekommen sind.