Michael Mertes sieht eine wachsende Bedeutung der Religion im Nahen Osten und hält Christen und Muslime für einander weniger fremd als ihre Selbstbilder suggerieren.
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Michael Mertes
Religion und Identität in Israel und dem Nahen Osten
Während in Europa der Säkularisierungsprozess unaufhaltsam voranzuschreiten scheint, nimmt die Bedeutung von Religion in Israel – wie im ganzen Nahen Osten – zu. Alteingesessene Jerusalemiten erzählen, in den vergangenen zwanzig Jahren seien die Schläfenlocken der ultraorthodoxen Männer deutlich länger und die Zahl der Kopftuch tragenden muslimischen Frauen deutlich größer geworden.
Das Israel Democracy Institute (IDI), ein hoch angesehener überparteilicher Think Tank, veröffentlichte Anfang 2012 die Studie „A Portrait of Israeli Jews“ (http://en.idi.org.il/media/1351622/GuttmanAviChaiReport2012_EngFinal.pdf), aus der unter anderem hervorgeht, dass 80% der Israelis an Gott glauben. Die Autoren der Studie konstatieren in diesem Zusammenhang eine signifikante Zunahme religiöser Überzeugungen seit Anfang der 1990er Jahre.
Besonders deutlich wird dieser Trend, wenn man die religiösen Einstellungen von älterer und jüngerer Generation miteinander vergleicht: Laut Israeli Democracy Index des IDI vom Herbst 2012 (http://en.idi.org.il/media/1365574/Index2012%20-%20Eng.pdf) definieren sich über 8% der israelischen Juden als ultraorthodox; bei den über 55 Jahre alten Befragten sind es fast 4%, in der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen sind es rund 14%. Unter denen, die sich als säkular definieren – also am anderen Ende des Religiositäts-Spektrums –, verhält es sich genau umgekehrt: Bei den über 55 Jahre alten Befragten sind es 47%, bei den 18- bis 34-Jährigen gut 39%.
Auch ohne solche demoskopischen Erkenntnisse sind die Unterschiede zu Europa offensichtlich. Der europäische Allgemeinplatz, Religion sei Privatsache, ja Intimangelegenheit, stößt hier auf breites Unverständnis. Das hat zunächst einmal nichts mit dem Wahrheitsanspruch zu tun, den Religionen öffentlich geltend machen, sondern mit ihrer Funktion als Kernbestandteil kollektiver Identitäten. Diese Funktion führt unter anderem dazu, dass in Israel Religiosität nicht, wie in großen Teilen Europas, zum Mittelschichtphänomen schrumpft, sondern in allen Bevölkerungsschichten lebendig bleibt und durch entsprechende Symbole – vom Davidsstern am Halskettchen bis zum Kreuz-Tattoo auf dem Unterarm – auch ganz bewusst demonstriert wird. Wer einige Zeit hier gelebt hat, lernt den komplexen Dress-Code zu entziffern, durch den die Zugehörigkeit zu einer der vielen religiösen Gruppen und Grüppchen signalisiert wird.
Der Nahe Osten ist ethnisch und religiös extrem fragmentiert. Oft sind ethnische und religiöse Identität nicht voneinander zu trennen – wie zum Beispiel bei Armeniern oder Drusen. Nimmt man die Bevölkerung des Staates Israel unter die Lupe, entdeckt man allein bei der christlichen Minderheit (gerade einmal 2%!) eine ganz erstaunliche Vielfalt von Kirchen und Denominationen. Zahlreich sind auch die einander zum Teil widerstreitenden Partikularismen unter ultraorthodoxen Juden; allein diese Tatsache widerlegt das Vorurteil, das Judentum sei ein homogener Block.
Was die monotheistischen Religionsgemeinschaften in Israel miteinander verbindet und zugleich voneinander trennt, ist die Bindung an das „Heilige“ Land. Bei Juden und palästinensischen Muslimen ist dies offensichtlich. Aber wie ist es mit den Christen? Der israelische Jesuit P. David Neuhaus SJ antwortet für seine Landsleute: „Viele Israelis scheinen zu glauben, dass alle Christen Ausländer sind und alle Araber Muslime.“ (http://www.jesuitenmission.de/uploads/media/weltweit_Sommer_2009_02.pdf)
Neuhaus’ Kritik gilt aber genauso für viele Europäer. Sie sehen nicht, dass es in der Nahostregion christliche Minderheiten gibt, die seit fast 2000 Jahren hier leben. Diese autochthonen Christen sind also nicht erst seit den Kreuzzügen des Mittelalters oder den Kampagnen europäischer Missionare im19. Jahrhundert hier – auch nicht erst seit den 1990er Jahren, als Zehntausende russisch-orthodoxe Ehepartner jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel kamen.
Die liturgische Sprache der autochthonen Christen ist Aramäisch, Armenisch, Byzantinisch oder Arabisch, seien sie nun altorientalisch, orthodox oder westkirchlich (katholisch oder evangelisch). Neuerdings kommt das Hebräische als katholische Liturgiesprache hinzu. In Israel genießen die Christen (aber auch verfolgte Religionsgemeinschaften wie zum Beispiel die Bahá’í) ein Maß an Religionsfreiheit, wie es das sonst nirgendwo im Nahen Osten gibt. Allerdings stehen sie in einem schmerzhaften Loyalitätskonflikt, den ihre Umgebung ihnen aufzwingt: Aus jüdischer Perspektive sind sie Araber, aus muslimischer Perspektive sind sie Vorposten des „ungläubigen“ Westens, manchmal sogar „Kollaborateure der Zionisten“.
Nicht wenige arabische Christen lösen diesen Konflikt für sich persönlich, indem sie auswandern. Das ist ein menschlicher, kultureller und spiritueller Verlust für die Region. Und es ist ein Verlust für Europa, weil die christliche Vielfalt im Nahen Osten daran erinnert, dass im Christentum „Morgenland“ und „Abendland“, Orient und Okzident, Ost und West von ihrem Ursprung her eine Einheit bilden. Übrigens ist auch das heutige Judentum west-östlich geprägt. In Israel sind seine aschkenasischen und seine orientalischen Quellen intensiver erfahrbar als an jedem anderen Ort der Welt.
Nach gängiger Auffassung führt die Verständigung zwischen Christen und Muslimen über den Königsweg der Vernunft, der Aufklärung, der Toleranz. Das ist sicher richtig – aber vielleicht muss noch etwas hinzukommen: Indem die „abendländischen“ Christen sich ihrer „morgenländischen“ Wurzeln bewusst werden, verändert sich ihr Blick auf die Muslime. Wir sind einander weniger fremd, als unsere Selbstbilder uns suggerieren.
Michael Mertes, Jahrgang 1953, leitet seit 2011 das Auslandsbüro Israel der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zusammen mit seiner Frau ist er Mitglied im arabischen Chor der katholischen Kustodie des Heiligen Landes.