VOM UMGANG MIT WUNDERN

Hans Maier erörtert wie in der katholische Kirche untersucht und beglaubigt werden.

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Hans Maier

Vom Umgang mit Wundern

Man stelle sich vor, es gäbe in unserem Land in einer Behörde auf Gemeinde-, Landes- oder Bundes­ebene ein Referat mit der schlichten Widmung „Wunder“. Das wäre gewiss eine sonderbare, eine im Wortsinn „verwunderliche“ Sache – auch wenn man zugeben muss, dass in den letzten Jahrzehnten im Geflecht unserer Behörden mit zahlreichen neuen Aufgaben auch viele merkwürdige neue Referatstitel entstanden sind.

An einem Ort der Welt gibt es freilich seit Jahrhunderten eine Behörde, die ganz amtlich für Wunder zu­ständig ist und deren Leiter sich geschäftsmäßig mit dieser Materie befassen. Das ist die Kongregati­on für Selig- und Heiligsprechungsprozesse (früher die Ritenkongregation) innerhalb der Römischen Kurie. Hier werden Wunder amtlich untersucht, beglaubigt und durch Dekrete promulgiert.

Dabei hat sich eine Zweiteilung etabliert: Bei Märtyrern kann auf das Wunder verzichtet werden. Sie sind mit Christus gestorben und haben Anteil an seinem königlichen Priestertum. Daher verlagert sich bei ihnen der Prozeß der Selig- und Heiligsprechung in die genaue Prüfung der „causae“ ihres gewaltsa­men Todes.

Bei den Nicht-Martyrern dagegen wird die Beglaubigung durch Wunder ein wichtiger Teil des Selig- oder Heiligsprechungsprozesses – und auf diese Weise kommt das Wunder, das der Fürsprache eines Heiligen bei Gott zugeschrieben wird, in den Blick der Kirche und wird in einem regulären Verfahren geprüft.

Das geschieht freilich erst in einer fortgeschrittenen Phase der Kirchengeschichte, in der sich bereits Re­gularien und ein in Akten greifbarer Umgang mit Zeichen und Wundern herausgebildet hat. Die histori­sche Schwelle bildet – nach der Formulierung eines allgemeinen päpstlichen Vorbehaltsrechts für den Heiligenkultus unter Alexander III. und Gregor IX. – die Schaffung einer für die Heiligsprechungen zu­ständigen Ritenkongregation durch Papst Sixtus V. im Jahr 1588. Unter den Päpsten Urban VIII. und Benedikt XIV. entwickelt sich dann ein förmliches Verfahren der Selig- und Heiligsprechung.

Das Prüfungsrecht der Päpste gegenüber jeder Art von spontan zustande gekommenem öffentlichem Heiligenkult setzt sich schließlich in der gesamten Kirche durch. Die immer feinmaschigeren Regelun­gen finden schließlich 1917 Eingang in den Codex Iuris Canonici, der dieses Verfahren im zweiten Teil des vierten Buches in nicht weniger als 142 Canones festlegt und umschreibt.

Die Päpste haben lange gebraucht, um ihr Vorbehaltsrecht gegenüber der oft wild wuchernden Heiligen­verehrung in der Kirche durchzusetzen. In einem Jahrhunderte dauernden Prozess haben sie die Wunder allmählich einer systematischen Prüfung unterzogen. Verwaltung als ein Vorgang der Ordnung, Begren­zung, Regularisierung tritt hier – ähnlich wie im weltlichen Bereich – dem Ungeordneten, plötzlich Auf­tauchenden, Präzedenzlosen gegenüber. Seelsorglich hieß das Problem, auf eine einfache Formel ge­bracht: Wie kann man das Wildwasser der Volksfrömmigkeit zähmen und kanalisieren – ohne doch die lebendigen Quellen zu verschütten, aus denen überall auf der Welt die Heiligenverehrung entspringt?

Der Prozess vollzog sich in mehreren Stufen. Genügte anfangs für eine Heiligsprechung das bloße Fak­tum der Verehrung eines Heiligen durch das Volk – so dass die bischöfliche Approbation des Heiligen­kultes nur akzessorischen Charakter hatte – , so wurde diese Approbation im Lauf der Zeit immer wichti­ger; sie entschied schließlich über den Erfolg oder Misserfolg einer Kanonisation. Aber auch der römi­sche Bischof wurde – über die Diözese hinaus schon frühzeitig – in die Prüfung der Heiligenverehrung eingeschaltet. Erstmals 993, bei der Kanonisation Ulrichs von Augsburg, wandten sich die Betreiber – in heutigen Begriffen: die Postulatoren – der Heiligsprechung des größeren Nachdrucks wegen an den Papst. Eine Arbeitsteilung bildete sich heraus: für die Seligsprechung sollten die Bischöfe, für die Hei­ligsprechung die Päpste zuständig sein.

Im Lauf der Jahrhunderte kehrte sich dann das Verhältnis um – bis zu dem Punkt, dass die päpstliche Zustimmung zum entscheidenden Faktum wurde, während das Votum der Bischöfe und die Voten des Volkes an Bedeutung verloren. Die Kirche nahm das Verfahren der Heiligsprechung in die Hand – mo­difizierend, mäßigend, oft verzögernd, hindernd, bremsend.

Ganz und abschließend vermochte die kirchliche Administration freilich die spontan aufflammende Ver­ehrung der Heiligen durch das Volk nie zu zügeln oder gar zu unterdrücken. Das Volk erwies sich als eine mächtige initiierende, unberechenbare, immer wieder die Regeln beugende Kraft. Es kam immer wieder vor, dass die zögernden Behörden durch Massen-Manifestationen unter Druck gesetzt wurden. Das jüngste Beispiel der Kirchengeschichte ist das von vielen Trauergästen auf dem Petersplatz minu­tenlang skandierte „Santo subito“ bei den Exequien und dem Begräbnis Johannes Pauls II. am 8. April 2005. Es hat immerhin dazu geführt, dass der geforderte Seligsprechungsprozess vom Nachfolger des verstorbenen Papstes, Benedikt XVI., sofort, ohne die übliche Frist, in Gang gesetzt wurde.

Am 25. Januar 1983 veröffentlichte Papst Johannes Paul II. ein besonderes päpstliches Gesetz, die Apo­stolische Konstitution mit den programmatischen Anfangsworten „Divinus perfectionis Magister. Sie wurde ergänzt und vervollständigt durch zwei Durchführungsverordnungen vom 7. Februar 1983, die neue, bis heute gültige Grundlage für den Kanonisationsprozess bildet.

Sie gliedert den gesamten Rechtsstoff in drei Stufen bzw. Etappen. In der ersten Phase führen die Bi­schöfe Erhebungen über das Leben, die Heiligkeit und gegebenenfalls das Martyrium eines Dieners Got­tes durch. Sodann beschäftigt sich die Heiligsprechungskongregation in Rom mit der Materie und erstellt einen Urteilsvorschlag an den Papst. Dieser trifft in letzter Instanz die Entscheidung über die Selig- oder Heiligsprechung. Ihm steht auch das Urteil darüber zu, ob die im Prozess vorgebrachten, historisch und medizinisch erhärteten Vorgänge und Zeichen als „Wunder“ einzustufen sind.

In unserem Zusammenhang interessiert vor allem, welche Stellung die Wunder im neuen Kanonisations­prozess einnehmen. Im Codex von 1917 war die Zahl der für eine Selig- oder Heiligsprechung erforder­lichen Wunder ausdrücklich festgelegt. Das reichte von zwei Wundern für eine einfache beatificatio bis zu vier Wundern für den Fall, dass „sowohl im Informativprozess als auch im apostolischen Verfahren der Beweis der Übung der Tugenden eines Dieners Gottes nur noch durch Überlieferungszeugen und durch Dokumente erbracht werden konnte…. Eine Ausnahme von diesen strengen Vorschriften machte man nur in bezug auf die Seligsprechung von Märtyrern.“ Demgegenüber verlangt die neue Geschäfts­ordnung der römischen Kongregation für die Seligsprechung „ein ordnungsgemäß approbiertes Wunder…sowie eine echte ‚fama signorum’…; für die Heiligsprechung ist ein ordnungsgemäß approbier­tes Wunder notwendig, das sich nach der Seligsprechung ereignet hat.

Ohne Zweifel ist das Selig- und Heiligsprechungsverfahren durch Papst Johannes Paul II. stark verein­facht und wesentlich effizienter gestaltet worden als früher. Die Verhandlungen wurden gestrafft. Die Bischöfe wurden auf Grund der Lehre des Zweiten Vaticanums von der Kollegialität der Bischöfe (auf die sich der Papst in seiner Konstitution ausdrücklich beruft) stärker am Prozess der Selig- und Heiligsprechungen beteiligt. Bezüglich der Wunder ist eine deutliche Abkehr vom Quantitativen, Positivistischen zu spüren – die Tendenz geht hin zu einer mehr symbolischen, zeichenhaften, auf das Heil gerichteten Sicht.

Gleichwohl haben die Wunder im Kanonisationsprozess nach wie vor einen hohen Stellenwert. Auch nach dem heutigen Verfahren genügt es nicht, dass das „heiligmäßige Leben“ des Kandidaten oder der Kandidatin im Verfahren bestätigt wird – Wunder sind nötig, wenn der Kanonisationsprozess zu einem erfolgreichen Ende gebracht werden soll. Wohlgemerkt (um einen weitverbreiteten Irrtum auszuräumen): das sind nicht Wunder, die der mögliche Heilige gewirkt hat oder wirkt – es sind Wun­der Gottes selbst, die auf die Fürbitte des Heiligen hin geschehen. Der klassische Fall ist der: ein Kran­ker ruft einen ihm bekannten verstorbenen heiligmäßigen Menschen an, den er bei Gott vermutet; sein Gebet wird erhört, und er wird auf eine Weise, die medizinisch nicht erklärbar ist, geheilt. Auf diese Weise ist Gott gewissermaßen selbst im Kanonisationsprozess gegenwärtig als der große Unbekannte, der für den Kandidaten bürgt.

Aber ist das nicht eine problematische Indienstnahme Gottes? Gerade die Einbeziehung der Wunder im Kanonisationsprozess ist in jüngster Zeit auf Kritik gestoßen. Manche treten dafür ein, dass die Kirche künftig – wie im Fall der Martyrer – auf die Einbeziehung von Wundern in den Selig- und Heiligspre­chungsprozeß verzichtet und sich mit einem Verfahren begnügt, das nach den strengen Regeln eines ge­richtlichen Prozesses zu führen ist.

Abschließend sei noch auf ein Feld hingewiesen, das zwar außerhalb der Selig- und Heiligsprechungen, jedoch nicht außerhalb unserer Gesamtthematik liegt: ich meine die Gebete um Heilung durch Gott, die im Einzelfall durchaus die Erwartung eines möglichen Heilungswunders einschließen. Solche Gebete gab es immer schon, sie bilden z. B. einen integralen Bestandteil der Krankensalbung, aber auch der Messe für die Kranken – sie weiten sich aber heute oft über den individuellen Fall hinaus aus zu beson­deren Gebetstreffen, Wallfahrten, zu Begegnungen mit quasi-professionellen Heilern aus, wobei echte oder angebliche „Heilungscharismen“ vielfältiger Art ins Spiel kommen.

Diese Phänomene haben die Kongregation für die Glaubenslehre am 14. September 2000 veranlasst, eine „Instruktion über die Gebete um Heilung durch Gott“ herauszugeben (unterschrieben von Joseph Kardinal Ratzinger).

In den Texten spürt man deutlich die Besorgnis, profane, geistliche, ja selbst bischöfliche Wunderheiler könnten sich der liturgischen Disziplin (und den diözesanen Normen) entziehen, und „Heilungscharis­men“ könnten sich in der Kirche verselbständigen – vor allem dann, wenn sie bestimmten Personen („Wunderheilern“) zugeordnet werden. Vor Formen, „die dem Hysterischen, Künstlichen, Theatrali­schen oder Sensationellen Raum geben“, wird ausdrücklich gewarnt; das Verbot, Exorzismusgebete in die Feier der heiligen Messe, der Sakramente oder des Stundengebetes einzufügen, wird eingeschärft.

Wir spüren auch in dieser Instruktion die gleiche vorsichtig begrenzende Tendenz, wie sie im Kanonisa­tionsprozess in einer langen geschichtlichen Entwicklung zur sorgfältigen Prüfung der fama signorum geführt hat – in deutlicher Abgrenzung von einer blind vertrauenden Wundergläubigkeit.

Hans Maier (1931) wurde 1962 Professor für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilian-U­niversität München und war 1970 bis 1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus so­wie von 1976 bis 1988 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 1988 bis 1999 war er ordentlicher Professor für christ­liche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universi­tät München (Guardini Lehrstuhl).

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