Helmut Stahl fordert den Aufbau eines „Zentrums für Biodiversitätsmonitoring“, denn in der öffentlichen Wahrnehmungskultur ist der dramatische, sich weltweit vollziehende Einbruch der Artenvielfalt zu wenig bewußt.
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Helmut Stahl
Mut zur Artenschutzpolitik
Die Welt ist voller Konflikte, realer wie inszenierter. Ob schreckliche wie in Syrien, ob um Brexit oder Dieselfahrverbote. Dazu Selbstinszenierungen egomanischer Politiker oder dumpfer Populisten. Das beschäftigt.
Das beschäftigt so sehr, dass oftmals nicht wahrgenommen wird, dass Lebensgrundlagen schwinden. Alles scheint im immerwährenden Moment wichtiger. Durchgesetzt hat sich – bis auf Irrläufer oder politische Esoteriker – die Erkenntnis, dass der menschengemachte Klimawandel lebens-bedrohend ist. Weniger erkannt und in der öffentlichen Wahrnehmungskultur rezipiert ist eine ebenbürtige, ebenfalls menschengemachte Bedrohung: der dramatische, sich weltweit vollziehende Einbruch der Artenvielfalt (Biodiversität). Mit dem „6. Artensterben“ (E. Kolbert) droht eine nicht reparable Schädigung der „Software“, die Natur und damit Nahrungsgrundlagen produktiv erhält.
Flut Roter Listen
Das Insektensterben hat mit dem Problem konfrontiert. Dass in drei Dekaden Dreiviertel des Insektenbestandes verloren gingen, ist dramatisch. Die Dramatik beschränkt sich jedoch nicht auf Insekten. „Die Flut mittlerweile veröffentlichter Roter Listen … ist kaum noch zu überblicken“; inzwischen dürften es über 350 sein (P. Berthold). Die Gefahr eines „ökologischen Kollapses“ wächst.
Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft für Szenarien einer aus dem biologischen Gleichgewicht geratenen Welt: Ernteausfälle durch Resistenzen, schrumpfende Erträge an Obst und Feldfrüchten durch Ausfall von Bestäubern oder Verluste fruchtbarer Böden durch sich aufbauende Belastungen bei verringerter Regenerationsfähigkeit.
„Von der 370.000 bekannten Pflanzenarten haben nur etwa 150 eine weltwirtschaftliche Bedeutung, davon ernähren die „Big Five“ (Weizen, Mais, Reis, Hirse und Sojabohnen) 75 % der Weltbevölkerung“ (W. Barthlott). Wer wagt eine Wette darauf, dass die Agrarchemie das „Wettrüsten“ gegen „Schädlinge“ der hochgezüchteten, in Monokulturen erzeugten „Big Five“ gewinnt? Resistenzen gegen Pflanzenschutzmittel und deren Nebenwirkungen werden ein immer heißeres Thema. Alexander von Humboldt hatte Recht: „Alles ist Wechselwirkung“.
Eine aktive Artenschutzpolitik tut Not:
Wissen schaffen
„Der Rückgang der biologischen Vielfalt führt zum Verlust von Gütern, Leistungen und Werten für den Menschen“ – so mit gebündelter Kompetenz 2018 die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Aber wie wirkt was im Ökosystem wie zusammen? Wo liegen Toleranzen, wo Grenzen? Was geschieht, wenn was wegbricht, wann und warum treten Kippdynamiken („Dominoeffekte“) auf, was ist unbedingt schutznotwendig, was eher hinnehmbar. Und: was verändert sich im Zeitablauf, wann geht was mit welcher Wirkung verloren und wann wird es akut gefährlich? Fragen, die gegenwärtig niemand beantworten kann.
Zeitkritisch ist der Aufbau eines „Zentrums für Biodiversitätsmonitoring“ (W. Wägele).Aufbau eines „Zentrums für Biodiversitätsmonitoring“ Da von der biologischen Vielfalt „Lebensqualität, Gesundheit und gesellschaftliche Entwicklung“ abhängen und „das Wissen über den Zustand und die Gefährdung der Arten und ihrer Lebensräume von zentraler Bedeutung“ ist (Bundesregierung, 2018), duldet das keinen Aufschub.
Ökologische Immunsysteme stärken
Den Artenschutz allein an „die Politik“ adressieren ist wohlfeil. Nach dem Grundgesetz geht alle „Staatsgewalt vom Volke“ aus. Wenn – überspitzt formuliert – das Volk den ökologischen Kollaps ignoriert oder gar negiert, ist Politik nicht zuvörderst anzulasten, wenn viel zu wenig geschieht.
Auch unabhängig von notwendigen Erkenntnisfortschritten durch Wissenschaft und Forschung kann vieles getan werden zur Stärkung des „ökologischen Immunsystems“. Etwa bei Gestaltung von Grünflächen, Parks oder Gärten.
„Kaum einem europäischen Großstädter ist bewusst, dass das, was er in der Stadt als Natur erlebt, eher dem Sortiment eines Kolonialwarenladens entspricht als einer natürlich gewachsenen Lebensgemeinschaft“. Bei Bäumen und Sträuchern übersteigen gebietsfremde Arten das heimische Angebot um das Zwanzigfache. „Was den Gärtner freut, kommt für die Spezialisten unter den heimischen Tieren einer von Sadisten arrangierten Hungerkatastrophe gleich“ (B. Kregel). Warum nicht Heckenrose, Kornelkirsche oder Holunder statt Kirschlorbeer oder Thuja? Damit wäre für die Biodiversität schon einiges gewonnen, ohne das es jemandem „weh tut“. Zudem können Städte als „Nature-Smart-Cities“ Leitbildcharakter gewinnen, begrünte Dächer, Mauern und vernetzte Räume entstehen lassen, die heimischen Tierarten neue Lebensräume verschaffen. Eine wichtige Aufgabe für engagierte Stadtmenschen und eine kreative Kommunalpolitik!
Natur verstehen
Erziehung und Bildung sind Schlüssel zur Bewahrung einer vielfältigen Natur. Das Staunen von Kindern beim Erfahren von Natur beglückt. Nur sind pädagogische Situationen für diese Erlebnisse rar geworden. Mit dem Mangel an Chancen dazu entsteht ein Fadenriss vieler junger Menschen bei der Suche nach Ursprünglichkeit. Biologieunterricht und Stellenwert der biologischen Umwelt sind marginalisiert – Fernwirkung einer fehlleitenden Prämisse der frühen Neuzeit; „Die Natur ist so eingerichtet, dass sie sich von selbst erhält“ (R. Safranski). Das spiegeln Lehrpläne wie Ausbildung von Lehrenden in ihrer Dürftigkeit für ein großes Zukunftsthema. Bildungspolitik ist hier im Kontext einer Artenschutzpolitik gefordert.
Politik und Staat in der Pflicht
„Die biologische Vielfalt ist ein öffentliches Gut, für das kein Markt existiert“ (Leopoldina u.a.). Sie ist somit in Obhut des Staates. Insbesondere das Bundesnaturschutzgesetz dient der biologischen Vielfalt und der Sicherung der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes. Das bleibt wichtig, ist gemessen an den Risiken eines ökologischen Kollapses jedoch bei weitem nicht ausreichend. Das geltende Recht hat den dramatischen Artenschwund nicht verhindert und kann dies auch zukünftig nicht.
Politik braucht Mut für einen neuen Politikansatz. Ein Einstieg ist gemacht. Erstmals nennt der Koalitionsvertrag (2018) der Großen Koalition im Bund den Schutz der biologischen Vielfalt als Auftrag von Regierungshandeln. Das ist ein Fortschritt!
Damit Wollen erdet, bedarf es Maßnahmen. Dabei kann die Artenschutzpolitik die Menschen „mitnehmen“. Ein breites Spektrum an Anreizen ist denkbar: vom „Nudging“ über Gestaltungswettbewerbe für Gärten und Parks, Selbstverpflichtungen, nachhaltige Blühstreifen-Förderung bis hin zu Taxonomie-Lernprogrammen. Dazu Ausweitung von Vertrags-Naturschutz, Systematisierung von Biotopverbünden oder Implementierung von Monitoringtechniken. Manches davon geschieht – allerdings eher „im Kleinen“, ohne das Dach eines bundesweiten Gesamtkonzepts.
Artenschutzpolitik kann eine gesellschaftliche „Lernkurve“ erzeugen, die Veränderungsnotwendigkeiten vermittelt und Akzeptanz schafft. Damit können auch politische Mehrheiten erreicht werden. Artenschutzpolitik justiert Perspektiven von Politik neu und anders. Sie überwölbt Kompetenzebenen und Ressortzuschnitte. Ob ihrer Bedeutung für die Sicherung von Lebensgrundlagen gehört sie als Gestaltungsauftrag in den politischen Wettbewerb. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ (Art. 21 GG). Das beinhaltet auch ihre „Bringschuld“ für Konzepte. Bürgerinnen und Bürger warten darauf.
Bears Gesetz gilt
Artenschutzpolitik wird sich nicht streitfrei etablieren und widerstandslos durchsetzen. Aber: „Bears Gesetz“ (Karl Ernst von Baer, 19. Jahrh.) gilt. Danach durchlaufen bedeutsame Neuerungen drei Stadien: zuerst werden sie diskreditiert, dann als gegen alle Vernunft verstoßend kritisiert und schlussendlich akzeptiert, selbstverständlich unter ausdrücklicher Betonung früherer Gegner, dass sie das alles schon immer gesagt und gewollt hätten.
Helmut Stahl (1947), Diplom-Volkswirt, Staatssekretär a.D., Mitglied des Landtages NRW von 2000 – 2010, davon die Zeit ab 2005 Vorsitzender der CDU – Landtagsfraktion, seit März 2017 Präsident der Alexander-Koenig-Gesellschaft (Förderverein des Zoologischen Forschungsmuseums Koenig in Bonn), Hobby-Ornithologe und stv. Vorsitzender der Nordrhein-Westfälischen Ornithologengesellschaft.