CHRISTEN, JUDEN, ABENDLAND

Ulrich Ruh warnt davor,  mit der Berufung auf das  „jü­disch- christlichen Erbe“ die Brüche in der gemeinsamen Geschichte zu verdrängen und sich einer sorgsam abwägende Beschäftigung mit dem Islam zu entziehen.

Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.

Ulrich Ruh

Christen, Juden, Abendland

Derzeit hat in Deutschland die Rede vom Abendland und vom christlichen Erbe Europas Konjunktur wie seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr, allerdings mit ei­nem großen Unterschied: Damals war die entsprechende Rhetorik Teil der europäischen Neu­besinnung nach der einschneidenden Zäsur des Zweiten Weltkriegs und diente gleich­zeitig der Abgrenzung der „freien Welt“ gegenüber dem Kommunismus. Heute ist die Stoß­richtung unverkennbar eine andere: Wer sich auf das Abendland oder das christ­liche Erbe Europas be­ruft, tut das meist in islamkritischer Absicht, bezweifelt mehr oder weniger grundsätzlich die religiös- weltanschauliche Europakompatibilität des Islam.

Es fällt in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auf, dass nicht selten das „jüdisch- christlic­he Erbe“ unseres Kontinents apostrophiert wird und zwar so, als wäre eine Kombinati­on die­ser beiden Attribute das Selbstverständlichste von der Welt. Aber es geht dabei bei genaue­rem Hinsehen um ein Spiel mit gezinkten Karten: Eigentlich müsste nämlich je­dem, der Jü­disches und Christliches auf diese Weise zusammenspannt oder zusammen­spannen möchte, ange­sichts der realen Geschichte Europas das Wort im Hals stecken bleiben, gerade hierzu­lande. Es gibt zwar unbestreitbar einen gemeinsamen Wurzelgrund von Judentum und Christentum in Gestalt der hebräischen Bibel, von dem sich das Chris­tentum jedenfalls in seinem „Main­stream“ nie gelöst hat. Dazu kommt: Jesus und seine ersten Jünger waren be­kanntlich Juden. Aber kennzeichnend für das jüdisch- christliche Verhältnis in Europa war über lange Jahrhun­derte ein hohes Maß an Asymmetrie.

Das Judentum war im christlich geprägten und dominierten Europa seit dem Frühen Mittelalt­er die einzige nichtchristliche religiöse Minderheit. Diese Minderheit genoss in der Regel einen prekären rechtlichen Sonderstatus, der mit zahlreichen Einschränkungen ver­bunden war. In manchen Ländern beziehungsweise Territorien wurden Juden jahrhunder­telang über­haupt nicht geduldet, so etwa in England und Frankreich. Die Diskriminierung des jüdischen Bevölkerungsteils überdauerte dann auch die abendländische Kirchenspal­tung in Folge der Reformation. Die heftigen antijüdischen Äußerungen Martin Luthers bilden denn auch einen dunklen Fleck für das soeben offiziell eingeläutete Reformations­jubiläum.

Auch im Rückblick auf die Geistes-, speziell die Theologiegeschichte steht die Rede von ei­nem „christlich jüdischen Erbe“ auf wackligen Beinen. Es gab zwar einzelne christliche Theologen, die den Austausch mit jüdischen Gelehrten pflegten. Aber das blieb die Ausnahm­e. Im Christentum bildete sich seit der mittelalterlichen Scholastik konfessionsüber­greifend eine Art von theologischer Systematik heraus, die dem Judentum völlig fremd war. Umgekehrt konnte man auf christlicher Seite mit der Tradition und Praxis der jüdi­schen Gesetzesauslegung kaum etwas anfangen.

Mit der und durch die Aufklärung änderten sich dann die Verhältnisse. Auf der einen Seite kam es zur schrittweisen rechtlichen Emanzipation der Juden in großen Teilen Eu­ropas, auch im damaligen Deutschland. Gleichzeitig ergaben sich neue Möglichkeiten ei­nes christlich- jü­dischen Austauschs im Zeichen der Aufklärungsideale Vernunft und Tu­gend. Jetzt erst konnte auch ein Stück wie Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Wei­se“ mit seiner Uto­pie eines christlich – jüdisch – islamischen Religionsfriedens entste­hen! Sowohl das Juden­tum wie das Christentum erlebten als Folgewirkung der Aufklä­rung im Übrigen eine span­nungsreiche Ausdifferenzierung in verschiedene Strömungen, in konservative und liberale Richtungen, die sich in ihrer Haltung sowohl zur Moderne wie zur eigenen Tradition unter­schieden.

Allerdings breitete sich, sozusagen als dunkle Seite der Moderne, parallel zur jüdischen Emanzipation und Reform in Europa ein neuer, biologistisch- rassisch fundierter Antisemitism­us aus, der dann in das vom Dritten Reich ins Werk gesetzte Menschheitsverbre­chen des Holocaust mündete. Ihm fielen große Teile des europäischen, auch des deut­schen Judentums zum Opfer. Die christliche Position war seinerzeit ambivalent: Die ka­tholische Kirche lehnte wie auch zumindest Teile anderer christlicher Kirchen zwar den Rasseantisemi­tismus ab; gleichzeitig reichten zum Teil religiös begründete antijüdische Vorurteile durch­aus bis in die Reihen der aktiven Christen hinein. Bezeichnender Weise urteilte das deutsche katholi­sche „Staatslexikon“ in seiner fünften, zwischen 1926 und 1932 erschienenen Auflage im einschlägigen Artikel zusammenfassend: „Im Antisemitis­mus mischt sich Richtiges mit Falschem.“

Die heutige Rede vom „jüdisch- christlichen Erbe“ Europas ist insofern eine Reaktion auf den Schock durch den Holocaust, als sie offenbar darum bemüht ist, dem Judentum einen Platz im europäischen Wertekanon zu sichern und es insofern positiv zu würdigen. Sie lässt allerdings offen, wie sich der christliche und der jüdische Strang im europäischen Erbe zu­einander ver­halten und ist schon deshalb nicht unproblematisch.

Vor allem hat diese Rede direkt oder auch nur indirekt eine antimuslimische Schlagseite, ist somit ein Teilelement der gegenwärtigen intellektuellen und politischen Auseinandersetzun­gen um die Rolle des Islam im heutigen beziehungsweise künftigen Euro­pa. Sie suggeriert nämlich, es gebe so etwas wie „gute“ und „schlechte“ Religionen für Eu­ropa, wobei Christen­tum wie Judentum unter dem einen und der Islam dem anderen Attribut subsummiert wer­den. Damit droht aber eine massive Vereinfachung in der Beurteilung des des religiösen und auch religionspolitischen Feldes in Europa: Das Reden vom „jü­disch- christlichen Erbe“ Eu­ropas verleitet dazu, die Brüche und Asymmetrien in der jü­disch- christlichen Geschichte un­seres Erdteils unzulässig zu überkleistern, anstatt sie in aller Ehr­lichkeit ins Bewusstsein zu heben. Gleichzeitig erschwert es eine sorgsam Licht und Schat­ten abwägende Beschäftigung mit dem Islam, so wie er sich heute in Deutsch­land bezie­hungsweise in anderen europäischen Ländern religiös- kulturell präsen­tiert. Er gehört inzwi­schen allen Unkenruf zum Trotz dazu!

Dr. Ulrich Ruh (1950) ist Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau und war 1991 – 2014 Chefredakteur der “Her­der Korrespondenz”.  Er studierte  Katholischen Theologie und der Germa­nistik in Freiburg und Tübingen . Danach war er bis  1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theolo­gischen Fa­kultät Freiburg (Prof. Karl Lehmann), am Lehrstuhl für Dogmatik und Öku­menische Theologie. 1979 wurde er  in Freiburg  mit einer Arbeit über Begriff und Problem der Säkularisierung zum Dr. theol. pro­moviert und trat im gleichen Jahr i die Redaktion der “Herder Korrespondenz” ein, deren Chefredak­teur er von 1991 -2014 war. Seit 2015 gehört er der Redaktion von kreuz-und-quer.de an.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert