VERNUNFT UND GLAUBE

Volker Ladenthin beschreibt die Grenzen der Vernunft sich selbst zu begründen.

Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.

Volker Ladenthin

Vernunft und Glaube

Die Euphorie war groß: Endlich schien der Mensch begriffen zu haben, dass er seine eigene Geschichte machen konnte. Er musste nur den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dann würde er sich mit eigener Kraft aus selbstverschuldeter Unmündigkeit be­freien. In der Kritik der reinen Vernunft hatte Immanuel Kant die Methode der Aufklärung beschrieben: Nicht ein Gott, nicht Geschichte oder Gesellschaft, nicht die Natur diktierten dem Menschen in die Feder, was er zu tun hatte; es schien umgekehrt. Der Mensch konnte sich seine Idole selbst schaffen. Er konnte der Natur, der Geschichte oder der Gesellschaft Fragen stellen, auf die diese ihm dann zu antworten hatten: Experiment und Erklärung, Das war die Idee der Wissenschaft: Messung nach menschlichem Maß. Der Mensch stellt die Fra­gen, Natur und Gesellschaft gaben die Antworten.

Sicher, es gab einige lästige Bedenkenträger: Jean-Jacques Rousseau hatte darauf hingewiesen, dass technischer Fortschritt nicht mit moralischem Fortschritt einhergehen müsse, ja die Aufklärung eine fatale Dialektik habe: „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. (…) Er vermischt und verwirrt Klima, Elemente und Jahreszeiten. (…) Er erschüttert alles, entstellt alles (…). Nichts will er so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. (…) Er muß ihn seiner Methode anpassen …“

Aber wem nützen solche Mahnungen? Die Methode war doch gut. Ihr Erfolg war doch er­fahrbar: Die Blitze des Himmels wurden vom Blitzableiter entmachtet, und die Elektrizität konnte man zweckmäßig nutzen: Für Maschinen, für Licht, Aufklärung eben. So vieles wurde beleuchtet. Die Städte, die Nacht. Die Winzigkeit des Atomkerns. Die Unendlichkeit des Wel­traums. Das Innerste des Menschen – sein Gehirn. Und alles aus eigenem Willen. Alles schien möglich, mit dieser Überzeugung warb ein Autokonzern. Das Internet kann alles, versprachen Anbieter. ‚All inclusive‘ wirbt die Reisebranche. Alles klar. Alles geklärt. Aufklärung.

Aber in diesem Versprechen liegt das Problem. Wenn die Vernunft alles kann, wozu genau sollte man sie dann gebrauchen. Zum Fortschritt? Ja, aber worin besteht der? Immer mehr von allem? Das hält die Welt nicht aus. Der Planet platzt schon jetzt aus allen Nähten.

Aber wie sollte man eine andere Antwort finden? Mit der gleichen Methode, mit der sich das Problem ergeben hatte? Kann die Vernunft sich selbst einen Sinn setzen? Kann sie sich wie Münchhausen selbst aus dem Sumpf ziehen?

Die Vernunft stieß, je mehr sie sich selbst verwirklichte, immer stärker auf dieses Problem: Wenn Wahrheit methodisch gewonnen wird, mit welcher Methode bestimmt man dann diese Methode? Vielleicht erfindet man auch dafür eine Methode…aber dann wird es schon ein Regress ins Unendliche: Mit welcher Methode bestimmt man die Methode, mit der man Methoden bestimmt? Das Zurückfragen kommt an kein Ende. Die Vernunft läuft ins Leere. Sie kann nicht methodisch begründen, dass ihre Methoden sinnvoll sind.

Die Wissenschaftstheoretiker und Ethiker sind sich inzwischen einig: man findet mit der Ver­nunft keine Letztbegründung, weil eben diese vernünftig sein müsste und so bereits als gültig voraussetzt, was sie erst beweisen will. Wer sich selbst einen Sinn setzen will, muss ihn schon haben, um ihn setzen zu wollen. Aber woher hat er ihn? Wer sittlich handeln will, muss erk­lären können, warum es sittlich ist, sittlich zu handeln. Münchhausens Lösung gehört in den Bereich der phantastischen Literatur.

Die Vernunft stößt, wo immer sie nach dem Warum und nach dem Wozu fragt auf Grenzen. Sie kann nicht herausfinden, warum und wozu sie gelten soll. Kurzfristige Zwecke kann man angeben: Ein Auto ist gut, weil es bequem ist. Aber warum ist Bequemlichkeit gut? Radler schwören eher auf die Gesundheit. Was ist besser? Warum? Was ist der Sinn aller Zwecke?

Wir alle glauben, dass es vernünftig ist, vernünftig zu sein. Wir alle handeln also, ohne den letzten Grund unseres Handelns begründen zu können. Wir handeln letztlich grundlos. Aber wir tun so, als gäbe es gute letzte Gründe.

Wir leben alle in dem Glauben, dass es vernünftig ist, sich an die Vernunft zu halten. Was ist das für ein Glaube? Woher kommt er? Wir können ihn nicht begründen, denn dann wäre es kein Glaube mehr, sondern der Beweis eines letzten Grundes, und die Zweifel begännen von Neuem. Wir alle leben auf der Basis eines Glaubens. Der Physiker ebenso wie der Soziologe. Wir glauben, dass man mit mathematischen Methoden die Welt erkennen kann: Beweisen kann man es nur wieder mit mathematischen Methoden. Ein Zirkelschluss. Wir glauben, dass es moralisch ist, moralisch zu handeln. Aber muss man nicht schon moralisch sein, um moralisch sein zu wollen?

Das Alte Testament hat ein wunderbares Bild für diese postmoderne Vernunftkatastrophe: Wir Menschen erhalten das, was wir selbst nicht schaffen können, aus Gottes Hand. Der Grund der Sittlichkeit wird Moses von Gott gegeben. Nicht wir Menschen können zur Moral motivieren. Wir müssen sie zwar verständlich auslegen und vernünftig gestalten: Aber der Grund dafür, moralisch sein zu müssen, liegt bei jemand anderem. Das hatte Moses auf dem Sinai erfahren.

Es lässt sich nicht beweisen, dass es so war, damals auf dem Sinai. Aus gutem Grund: Ließe es sich beweisen, so wäre der Beweis von Menschen Hand und damit nicht letztbegründet. Alles Menschliche ist nur vorläufig.

Aber es gibt Menschen, die glauben, dass die Geschichte von Moses am Sinai eine Geschichte ist, die zeigt, dass dort, wo die Vernunft nicht weiter kommen kann, der Glaube ansetzt. Immer. Bei allen. Jeder lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Jede Vernunft setzt den Glauben an sich schon immer voraus. Die Vernunft kann ihre Voraus­setzung sehr genau bestimmen. Aber sie kann sie nicht vernünftig gestalten. Beim Handeln aber setzen wir voraus, dass diese Voraussetzung vernünftig gestaltet wurde. Wir implizieren (oder glauben voraussetzen zu dürfen), dass es vernünftig ist, vernünftig zu sein. Alles ratio­nale Handeln setzt Glauben voraus. Welchen? Nun, das wäre eine eigene Abhandlung wert.

Prof. Dr. Volker Ladenthin (1953) ist Prof. für Historische und Systematische Erziehungswissen­schaft an der Universität Bonn. Er forscht zur Allgemeinen Pädagogik, Bildungstheorie und zur Werterziehung. Über den Zusammenhang von Religion und Bildung hat er sich in seinem letzten Buch geäußert: Zweifeln, nicht verzweifeln. Warum wir Religion brauchen. Würzburg 2016.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert